Mit dem Radl im Zickzack dem Vater auf der Spur
Hellmut Kainka findet im Nachlass seines Vaters einen Jugendherbergsausweis mit einem Stempel aus Lindau
- Hellmut Kainka ist mit dem Fahrrad von Dresden nach Lindau und dann wieder in seine Heimat im Ruhrgebiet gefahren. Insgesamt hat er nicht nur rund 2800 Kilometer zurückgelegt, sondern war auch auf den Spuren seines Vaters unterwegs. Denn der ist als junger Mann vor mehr als 80 Jahren auch mit dem Fahrrad an den Bodensee gefahren.
„Im Nachlass meines Vaters habe ich einen Jugendherbergsausweis aus dem Jahr 1938 gefunden“, sagt Kainka. „Er war in einer alten Zigarrenschachtel.“Er fand darin verschiedene Eintragungen, alle von einer einzigen Reise: Einer Radtour von Kreuzburg in Oberschlesien – heute heißt die Stadt Kluczbork und gehört zu Polen – nach Lindau an den Bodensee. Sein Vater war damals 18 Jahre alt.
Wie Hellmut Kainka erzählt, hatte sein Vater eine Auszeichnung von seiner Schule erhalten: einen Eintritt ins Deutsche Museum in München. Gemeinsam mit einem Freund sei der 18-Jährige von der Heimat in Oberschlesien in Richtung Süddeutschland losgeradelt. Von München aus habe es den Vater anschließend noch an den Bodensee gezogen. Der Stempel im Ausweis zeigt, dass er am 20. Juli 1938 die Lindauer Jugendherberge erreichte.
Die Idee, die Strecke nachzuradeln, trug Hellmut Kainka mehrere Jahre in sich. „Sie wurde zu einem Muss“, sagt der 65-Jährige, der in Datteln bei Dortmund wohnt. Für 40 Euro besorgt sich ein gebrauchtes, reparaturbedürftiges Fahrrad in einem Diakonie-Kaufhaus und steckt nochmal 50 Euro rein, um es für die Strecke fit zu machen.
Als er im Sommer 2020 endlich Gelegenheit dazu hat, die weite Radtour anzutreten, war die CoronaPandemie schon ausgebrochen. Wegen der damit verbundenen Einschränkungen beschließt er, entgegen seines ursprünglichen Plans, nicht in Polen zu starten. Im Jugendherbergsausweis seines Vaters findet er aber einen geeigneten Ausgangspunkt. „Der erste Eintrag ist aus einer Jugendherberge in Dresden“, berichtet Kainka. Also radelt er von seinem Heimatort dort hin: Von Datteln bei Dortmund über Paderborn durch Thüringen nach Dresden.
Dort trifft er sich mit seinem jüngeren Bruder, der ihn eine Woche lang begleitet. „Wir haben beide eigene Familien. Normalerweise verbringen wir nicht so viel Zeit zu zweit“, sagt Kainka. Die Gespräche erlebt er als sehr intensiv. Er teilt auch eines der schönsten Erlebnisse seiner Reise mit seinem Bruder. Als die beiden im Erzgebirge auf einer Anhöhe die Aussicht genießen, denken sie im gleichen Moment an ihren Vater, der schon 1988 verstorben ist. „Das könnte der Vater auch gesehen haben“, sagt er.
Am Bahnhof in Nürnberg nehmen die Brüder wieder Abschied voneinander. Hellmut Kainka fährt allein in Richtung Bodensee weiter. Dabei begegnet er immer wieder freundlichen Menschen, die ihm weiterhelfen, ihm Sehenswürdigkeiten zeigen oder ihn sein Zelt bei sich aufschlagen lassen. Aber auch viele Naturerlebnisse begeistern ihn: der Gesang seltener Vögel, Düfte von Pflanzen, das faszinierende Licht von Glühwürmchen.
Besonders prägt sich bei ihm die Ankunft in Lindau ein. Von einer Mitarbeiterin an der Rezeption erfährt er, dass es sich um genau das gleiche Gebäude handelt wie das, in dem sein Vater 82 Jahre zuvor übernachtete. Als Hellmut Kainka abends auf dem Balkon sitzt, in den Himmel schaut und die Sterne betrachtet, werden Kindheitserinnerungen wach. „Mein Vater war astronomisch interessiert und hat uns Kindern die Sternbilder gezeigt“, sagt er. Nun vom gleichen Ort aus wie er damals in die Sterne zu schauen, „das war sehr ergreifend für mich“, sagt er.
Hellmut Kainka denkt in diesem Moment auch an die Lebenssituation zurück, in der sich sein Vater damals befand. Die Aussichten für den damals 18-Jährigen seien gut gewesen. Doch ein Jahr später, 1939, kommt alles anders: Der Zweite Weltkrieg beginnt, er wird eingezogen. Erst nach dem Krieg wendet sich das Blatt nochmal für ihn. Er lernt seine zukünftige Frau kennen, verliebt sich, sie heiraten und gründen eine Familie mit fünf Kindern. Die Reise mit dem Fahrrad von Oberschlesien an den Bodensee kommt in der Familie aber nie ausführlich zur Sprache. Umso überraschter ist Hellmut Kainka, als er in der alten Zigarrenschachtel den Jugendherbergsausweis findet.
Bei seiner Tour orientiert er sich an den Eintragungen in dem alten Jugendherbergsausweis. Der führt ihn ein bisschen im Zickzack durch halb Deutschland. Von Dresden geht es durch das Erzgebirge nach Nürnberg, über Kelheim an der Donau nach München. Weiter führt die Route über Ulm zum Bodensee. Auf dem Rückweg fährt Hellmut Kainka über Basel, Straßburg und das Elsass bis nach Köln. Erst dort steigt er in die Bahn und fährt nach Hause ins Ruhrgebiet.
Er ist sparsam unterwegs, ähnlich wie sein Vater – so stellt er es sich zumindest vor. „Das Fahrrad, die Kleidung und das Zelt waren damals sicher viel simpler“, sagt der 65-Jährige. Er schläft oft in seinem Zelt, aber auch an Verpflegung benötigt er nur wenig. Mal die Flasche mit Wasser auffüllen, etwas Brot. Am Abend ein Bier, mal Schokolade oder ein Eis sind aber auch drin. Das sei „spartanisch, aber beglückend“, sagt Kainka. „Ich war immer glücklich, zufrieden und satt.“Die Reise habe ihn insgesamt ungefähr nur 200 Euro gekostet, einschließlich der Übernachtungen in Jugendherbergen und Pensionen und Museumseintritten und Anschaffungen wie mal eine neue Hose.
Von den 2800 Kilometern, die Hellmut Kainka in einem Monat zurückgelegt hat, sind 500 Kilometer Umweg, schätzt er. Aber das stört ihn nicht. „Es ist eine schöne Sache, sich zu verfahren“, sagt er. „Man entdeckt so schöne Sachen.“Und vor allem eins bleibt ihm in Erinnerung: „Für mich war es sehr ergreifend, den Spuren meines damals jungen Vaters so nahe zu sein.“