Ausgebadet
Wegen neuer Haftungsrisiken bauen Kommunen Anlagen für Schwimmer an Gewässern ab – Zuletzt entschied sich Bad Saulgau zu einem solchen Schritt
Mittwoch, 23. Juni 2021
Wo bis vor kurzem am Wagenhauser Weiher ein Badesteg war, ist jetzt nur noch Wasser. Es gibt nur noch eine letzte Spur: einige Quadersteine am Ufer. Sie dienten als landseitige Auflage des Stegs.
- Der Tatort lässt sich rasch finden, auch wenn das Opfer schon weg ist. Es geht dabei um einen hölzernen Badesteg am beliebten Wagenhauser Weiher, von der oberschwäbischen Stadt Bad Saulgau der modernen Haftungsrechtsprechung geopfert. Wo er bis vor Kurzem ins Wasser führte, sind bloß noch die Steine seiner Uferbefestigung da. „Es ist eigentlich traurig“, meint eine junge Mutter, die mit ihren beiden Buben bei heißer Nachmittagssonne zum Plantschen am Weiher ist. „Die Kinder haben von dem Steg aus immer ins Wasser springen können.“
Geplantscht, gespritzt und geschwommen wird natürlich trotzdem. Der Wagenhauser Weiher hat Charme. Wald, Wiesen sowie ein Weiler begrenzen ihn idyllisch. Er dient als Ersatz für ein vor rund fünf Jahrzehnten geschlossenes marodes städtischen Freibad. Auch Lenny Weiß und Jonas Lutz, zwei 18-jährige Burschen, sind oft zum Abhängen da. Aber jetzt sagen auch sie etwas irritiert: „Da fehlt etwas.“Klar, nämlich der besagte Steg, von einem auf den anderen Tag abgebaut.
Bad Saulgau hat damit aber nur getan, was inzwischen deutschlandweit Kommunen umtreibt: sich haftungsrechtlich auf die sichere Seite zu begeben. Denn im Reich der Paragrafen hat der Wagenhauser Weiher inzwischen ein entscheidendes Manko. Er ist eine freie Badegelegenheit ohne Bademeister. Weshalb sein Steg plötzlich zum städtischen Hochrisiko-Bauwerk mutierte.
Hintergrund der Misere sind zwei Gerichtsurteile, deren Wirkung sich vielen kommunalen Vertretern erst so langsam erschließt. Ein Spruch stammt vom Bundesgerichtshof und geht auf Ende 2017 zurück. Er beruht auf dem tragischen Fall eines zwölfjährigen Mädchens sieben Jahre zuvor. Es hatte sich im Naturschwimmbad Linderhohl der rheinland-pfälzischen Stadt Höhr-Grenzhausen mit dem Arm in der Kette einer Boje verfangen. Halb ertrunken, traten trotz einer Rettung massive Hirnschäden ein.
Der Bundesgerichtshof sah die Kommune in der Verantwortung. Der See ist mit Badeanlagen versehen. Dies mache eine Überwachung nötig. Am Strand war der Badebetrieb aber nach richterlicher Ansicht von zwei Aufsichtskräften nur grob fahrlässig beobachtet worden. Mehr noch: Bei einer solchen groben Fahrlässigkeit muss ein Kläger von nun an nicht mehr beweisen, dass durch einen aufmerksamen Bademeister die schweren Gesundheitsschäden vermieden worden wären. Die Folge: Jede noch so kleine Unaufmerksamkeit kann für den Bademeister und den Betreiber der Einrichtung unkalkulierbare Folgen haben.
An diesem Punkt kommt ein Versicherer der Kommunen ins
Spiel, die KSA. Das Kürzel steht für Kommunalen Schadenausgleich, eine Selbsthilfeorganisation von Städten und Gemeinden. Deren Rechtsabteilung hat den Gedanken des Bundesgerichtshofs weiter gesponnen. Seitdem warnt die KSA: Handelt es sich um einen See mit Steg oder sonstigem Anleger, sei die Kommune in der Pflicht. „Es spricht vieles dafür, dass dann eine Beaufsichtigung des Badebetriebs auch an Seen nötig ist“, glaubt der Versicherer. Gemeint sind in diesem Fall eben auch Gewässer ohne klassische FreibadDefinition. Könne die Kommune keine Aufsicht stellen, bleibe nur der Verzicht auf solche Vorrichtungen. Sollten bereits welche vorhanden sein, empfiehlt die KSA die rasche Entfernung.
Der nächste Unglücksfall gestaltete sich noch wesentlich schlimmer als jener des Mädchens in Rheinland-Pfalz. Es geht um ein Gewässer im nordhessischen Neukirchen, einem früheren Feuerlöschteich, der aber zur Freizeitanlage mit Grillstelle umgebaut worden war. Drei Geschwisterkinder hatten 2016 ohne ihre Eltern an der Badestelle gespielt und waren ertrunken. Beim anschließenden Verfahren sah es das zuständige Amtsgericht Schwalmstadt als erwiesen an, dass der Bürgermeister seiner Verkehrssicherungspflicht nicht nachgekommen sei. Es verurteilte ihn wegen fahrlässiger Tötung wegen Unterlassung zu einer Geldzahlung.
Badegast am Wagenhauser Weiher
Das Problem: Die Gemeinde hatte den Teich Jahre zuvor sanieren lassen. Dabei war ein Teil des Ufers mit Pflastersteinen befestigt worden. Hier hakte das Gericht ein. Die Steine seien im Lauf der Zeit glitschig geworden und so sei eine gefährliche Stelle entstanden, fand es. Deshalb hätte der Bürgermeister die Stelle mit Rettungssteinen oder Gittern sichern müssen. Zugleich fegte das Gericht den Hinweis vom Tisch, dass am Teich ein Schild warnte: „Betreten auf eigene Gefahr. Eltern haften für ihre Kinder.“Solch ein Schild sei rechtlich nicht bindend, lautete die richterliche Entscheidung. Der Bürgermeister hätte persönlich dafür sorgen müssen, dass die Badestelle eingezäunt wird.
Durchaus nachvollziehbar, dass man im Saulgauer Rathaus angesichts dieser Rechtsprechung und ihrer Interpretation zunehmend verunsichert war. Eine Daueraufsicht am Wagenhauser Weiher durch Bademeister oder DLRG wurde als nicht machbar angesehen – zu teuer oder eben kräftemäßig nicht stemmbar. Folgerichtig machte Bürgermeisterin Doris Schröter im Mai noch vor dem Stegabbau deutlich, sie wolle bei einem Badeunfall nicht das Risiko juristischer Konsequenzen eingehen.
Wobei der Wagenhauser Weiher weit davon entfernt ist, ein Unfallschwerpunkt zu sein. Badegäste, die seit Jahrzehnten hierherkommen, erinnern sich an keine einschneidenden Vorfälle – selbst nicht als es in Vorzeiten noch einen Sprungturm im Weiher gegeben habe. Morsch geworden, ist die Plattform für Hechtsprünge oder Arschbomben längst weg. Dass nun der Steg praktisch über Nacht gefolgt ist, hat viele überrascht. „Der war halt immer dagewesen“, meint ein von seinen Enkeln begleiteter Rentner aus dem nahen Dorf Fulgenstadt. Wobei Verständnis für die Stadt da ist. Sie könne es schließlich nicht riskieren, in Haftung genommen zu werden. Noch mehr gelte dies für die Bürgermeisterin.
Die Frage ist aber nun, wie es generell mit solchen Badeeinrichtungen weitergeht? Oberschwaben, die Alb, das Allgäu oder der Bodenseeraum sind klassische Gegenden der Seen, Weiher und badetauglichen Flüsse. Kein Ufer ohne Steg, sei es für die Fischerei, fürs Bootefestmachen, fürs Baden. Es gibt unzugänglichen Privatbesitz, gewerbliches Eigentum, dazu dann eben frei zugängliche Gewässer in
Gedenklichter stehen am Löschteich im hessischen Seigertshausen. Dort ertranken drei Geschwister im Alter von fünf, acht und neun Jahren beim Spielen. kommunaler Verantwortung, also die gegenwärtige Konfliktzone.
Alles, was im Wasser für Spaß sorgen kann oder sonst wie Badenden zugutekomme könnte, verwandelt im Zweifelsfall eine unkomplizierte Badestelle in ein heikles überwachungspflichtiges Naturfreibad – neben Stegen auch künstliche Inseln oder Sprungbretter.
Folgerichtig gilt in immer mehr Rathäusern, Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. So hat die Gemeinde Wilhelmsdorf im westlichen Teil des Landkreises Ravensburg bereits 2018 reagiert. Der Lengenweiler See verlor seine erst zwei Jahre zuvor eingesetzte Badeinsel. Die unweit von Sigmaringen gelegene Gemeinde Krauchenwies nahm ihre zwei Badeflöße aus dem örtlichen Plantschbereich. In Meßstetten auf der westlichen Alb ist eine Plattform und eine Wasserrutsche rückgebaut worden. Im württembergischen Allgäu hat nach vorliegenden Meldungen die Badestelle am Herlazhofer Moorbad ihren Steg verloren. Anderswo werden Geländer und Zäune aufgestellt, damit niemand einfach so ins Wasser stürzen kann.
Bemerkenswerterweise ist dieses Thema aber erst jüngst hochgekocht – eben durch die besagten Gerichtsurteile. Vorher herrschte an der
Wasserfront eher Ruhe. Eventuell könnte es einen Gesinnungswandel in Sachen Haftung gegeben haben, vermutet bei Bad Saulgau der eine oder andere Gast des Wagenhauser Weihers. „Wer übernimmt denn heute noch die Verantwortung für sein Tun?“, fragt ein braungebrannter mittelalterlicher Herr. „Schuld sind immer die anderen. Geschieht etwas, wird doch gleich der Rechtsanwalt in Marsch gesetzt.“
So ganz aus der Luft gegriffen ist das Geschimpfe nicht. Erst vor zwei Jahren hat etwa der Versicherer Ergo in seinem jährlichen Risiko-Report attestiert: „Unter den Deutschen ist eine abnehmende Eigenverantwortung festzustellen.“Sie würden die Sorge um ihre Sicherheit gerne abgeben. Eine weitere Studie aus dem Bereich der Führungskräfteschulung besagt, zwei Drittel der Deutschen würden die Schuld für Zwischenfälle nicht bei sich selbst, sondern woanders suchen.
Gut zu beobachten ist eine solche Entwicklung in den USA. Die öffentliche Hand sowie Unternehmen haben längst darauf reagiert. Das wohl bekannteste Beispiel: der Hinweis auf Kaffeebechern, dass sie bei eingefülltem frischen Kaffee heiß sein können. Ansonsten wäre es möglich, dass sich arglose Zeitgenossen die Hand verbrennen, darauf
Schwäbische Zeitung das Unternehmen verklagen – und sogar recht bekommen.
Wie sich bei dem tragischen Unfall der drei Geschwister im Teich des nordhessischen Neukirchen herausstellte, war auch dieses Ereignis kein blitzschnell eingetretenes Ereignis aus heiterem Himmel ohne Vorgeschichte. Passanten hatten nämlich offenbar den Vater der Kinder zuvor ins Gebet genommen. Sie wiesen ihn demnach darauf hin, er solle besser nach seinem Nachwuchs schauen, wenn dieser zum Teich gehe. Was nach den entsprechenden Aussagen nicht geschah.
Unklar ist zudem, ob die Kinder schwimmen konnten. Das jüngste war immerhin erst fünf Jahre alt. Wobei in diesem Zusammenhang zu sagen ist, dass laut der Deutschen Lebens-Rettungsgesellschaft DLRG die Zahl der Nichtschwimmer sowieso dramatisch ansteigt. Ein Viertel der Deutschen gilt inzwischen als Nichtschwimmer. Kurios bei dieser Studie: Nur drei Prozent gestehen sich ein, tatsächlich nicht schwimmen zu können. Die anderen Defacto-Nichtschwimmer spielen mit ihrem Leben.
Bei Kindern geht die DLRG davon aus, dass ein Viertel noch nicht einmal Kontakt zum Schwimmen gehabt habe. Wenigstens seien aber noch rund drei Viertel der Grundschüler Träger des Seepferdchens, einem Anfänger-Schwimmabzeichen. Die Zahl bezieht sich jedoch auf Vor-Corona-Zeiten. Sie dürfte sich verschlechtert haben, schätzt die DLRG. Wobei sie darauf hinweist, dass das Seepferdchen-Signet noch lange nicht sicheres Schwimmen verheiße. Hierzu würden weitere Kurse benötigt.
Klar, dass solche Entwicklungen das Risiko der Kommunen zusätzlich steigern. Ein Steg ist da schnell aufgegeben. Das Haftungsrisiko am Wagenhauser Weiher wäre dann überschaubar, meinte Bad Saulgaus Bürgermeisterin Schröter vor dem Abbau. Belassen hat die Stadt übrigens Umkleidekabinen. Dazu wurden, wie die Jahre zuvor, Dixi-Klokabinen aufgestellt. „Der Betrieb geht auch ohne den Steg weiter“, stellt Paul Lentz, ein Rentner aus Bad Saulgau, befriedigt fest. Man werde sich eben daran gewöhnen. Wobei ihn laut seinen Worten etwas ganz Bestimmtes jedes Mal an den Steg erinnert: „Über ihn ist man ins Wasser gekommen, ohne schmerzhaft über die Steine am Ufer laufen zu müssen. Jetzt ziehe ich vorsichtshalber Schuhe an.“
●
„Schuld sind immer die anderen. Geschieht etwas, wird der Rechtsanwalt in Marsch gesetzt.““