Mit Ach und Krach
Deutschland müht sich mit einem 2:2 gegen Ungarn ins EM-Achtelfinale – Dort wartet am Dienstag England
(dpa) - Was für ein Zittern! Was für eine Erlösung! Leon Goretzka hat die Fußball-Nationalmannschaft im Gewitterregen von München vor dem nächsten großen TurnierSchock bewahrt und Joachim Löw zumindest ein weiteres K.o.-Spiel vor der Bundestrainer-Rente gesichert. Nach dem mühevollen 2:2 (0:1) durch den Ausgleichstreffer des Münchners gegen Ungarn steht die lange erschreckend hilflose und vom Außenseiter fast düpierte DFB-Elf doch noch im Achtelfinale der Europameisterschaft.
„Die Moral war sensationell gut“, sagte Löw im ZDF. „Das war nichts für schwache Nerven. Am Ende muss man sagen: durch diese Gruppe durchzukommen, das war gut, und das war das Ziel.“Kapitän Manuel Neuer sprach von einem „Nervenkrimi“, Matchwinner Goretzka war „natürlich überglücklich“. Das Spiel „war ganz, ganz schwierig“, sagte der Münchner. „Es sind viele Widerstände, gegen die man ankämpfen muss. Großartig, dass wir es geschafft haben vor eigenem Publikum.“Dennoch ist im Achtelfinale am 29. Juni beim Klassiker in Wembley gegen England eine enorme Leistungssteigerung notwendig. Sonst bleibt eine erneute Reise nach London zur Finalwoche im Juli reine Utopie. „Es ist ein K.o.-Spiel, es ist alles möglich und Wembley liegt uns“, sagte Neuer. „Wir sind voller Selbstvertrauen“, meinte Goretzka.
Ohne sein Tor in der 84. Minute hätten die ungarischen Treffer des Mainzers Adam Szalai (11.) und von Andras Schäfer (67.) nur drei Jahre nach dem WM-Desaster von Russland das nächste Vorrunden-Aus besiegelt und die Ära Löw hätte nach 15 Jahren ein klägliches Ende genommen. Den ersten Ausgleich von Kai Havertz (66.) hatten die Ungarn sofort gekontert.
Dennoch ist im Achtelfinale am 29. Juni beim Klassiker in Wembley gegen England eine enorme Leistungssteigerung notwendig. Sonst bleibt eine erneute Reise nach London zur Finalwoche im Juli reine Utopie. „Wir werden anders auftreten als heute, das kann man versprechen“, sagte Löw. Joshua Kimmich kommentierte die Klassiker-Paarung so: „Ja geil! Wir sind auf jeden Fall heiß.“Auch Goretzka meinte: „Wir sind voller Selbstvertrauen.“
Löw hatte im Endspurt auf volle Offensive gesetzt und Thomas Müller Timo Werner, Kevin Volland und Debütant Jamal Musiala als Joker gebracht — die Rechnung ging gerade noch auf. Musiala als jüngster deutscher Turnierspieler
leistete die Vorarbeit zu Goretzkas entscheidendem Treffer. Bis dahin lief nur wenig zusammen. Der Bundestrainer sah zwar früh die erste gute Chance seiner Mannschaft, als Joshua Kimmich, der wieder auf der rechten Seite spielte, aus kurzer Distanz Ungarns Nationaltorwart Peter Gulacsi von RB Leipzig prüfte (4.).
Wenig später folgte aber eine Fehlerkette, die im Gruppenfinale einer EM nicht passieren darf. In der Rückwärtsbewegung agierten Toni Kroos und Robin Gosens viel zu passiv, beide verhinderten den langen Ball von Roland Sallai nicht, den Szalai stark gegen Mats Hummels und Matthias Ginter verwertete. Der dritte Rückstand im dritten Spiel – Deutschland war zu diesem Zeitpunkt ausgeschieden. In der Münchner EM-Arena sangen und grölten nur noch die ungarischen Fans, die hinter Manuel Neuers Tor ohne Abstand die Führung feierten.
Die Aufgabe gegen den defensiv unbequemen Gegner wurde für die DFB-Auswahl immer schwieriger. In zurückgezogener 5-3-2-Aufstellung verteidigten die Ungarn das eigene Tor, in dem Gulacsi auch gegen Ginter sicher hielt, nachdem Hummels per Kopf nur die Latte getroffen hatte (21.).
Serge Gnabry, Havertz und Leroy Sané, der den angeschlagenen Müller in der Startelf ersetzte, boten sich vorne kaum Räume. Zur Mitte der ersten Halbzeit erinnerte das Spiel an eine Handball-Partie um den ungarischen Strafraum. Löw wirkte an der Seitenlinie jedoch energielos, der Bundestrainer gab kaum einen Impuls von außen.
Die DFB-Auswahl hatte zwar deutlich mehr Ballbesitz, schaffte es aber vor der Halbzeitpause viel zu selten in den Strafraum. „Die drei vorne müssen schauen, dass wir im Zentrum viel Wirbel machen“, hatte Löw kurz vor dem Spiel im ZDF gesagt und Sané „Weltklasse“bescheinigt, wenn dieser seine Qualitäten abrufe. Der Münchner hatte es bei zwischenzeitlich stärker werdendem Regen aber weiterhin große Probleme, sich gegen die rigoros kämpfenden Ungarn in Szene zu setzen, die zudem bei Kontern gefährlich blieben.
Zur zweiten Halbzeit nahm der Bundestrainer zunächst keine Veränderung vor. Während der Pause war zu sehen, wie er kurz mit Müller sprach. Die DFB-Auswahl versuchte weiterhin, mehr Druck zu entwickeln. Wieder Havertz kam zum Abschluss, den Gulacsi problemlos entschärfte (52.). Dann kam Goretzka für Ilkay Gündogan (58.), Löw wechselte das System zur Viererkette. Gefährlich wurde es aber erst vor dem Tor von Neuer. Ein Freistoß von Sallai knallte an den deutschen Pfosten (62.), ehe sich die Ereignisse überschlugen.
Zunächst erlöste Havertz die deutschen Fans mit seinem Kopfball zum bejubelten Ausgleich nach Vorlage von Hummels. Gulacsi sah schlecht aus beim deutschen Tor. Löw brachte in der folgenden Unterbrechung Werner für den Torschützen und Müller für Gnabry. Aber nur gut 15 Sekunden nach dem Wiederanstoß der Ungarn schauten die deutschen Fans wieder entsetzt aufs Spielfeld. Die schnelle Kombination der Ungarn schloss Schäfer gegen den herauseilenden Neuer zur erneuten Gästeführung ab. Goretzka sorgte kurz vor Schluss aber doch noch für grenzenlosen deutschen Jubel.
Deutschland – Ungarn 2:2 (0:1) DFB: Neuer – Ginter (82. Volland), Hummels, Rüdiger – Kimmich, Gündogan (58. Goretzka), Kroos, Gosens (82. Musiala) – Havertz (67. Werner), Gnabry (68. Müller), Sané. – Tore: 0:1 Ad. Szalai (11.), 1:1 Havertz (66.), 1:2 Schäfer (68.), 2:2 Goretzka (84.). – Zuschauer: 14 000 in München.