Lindauer Zeitung

Würzburg bleibt verstört zurück

Motiv des Amokläufer­s noch unklar – Das Eingreifen von Passanten hat Leben gerettet

- Von Patrick Guyton

- In Bayern ist an diesem Sonntag Trauerbefl­aggung, auch an den beiden Tagen darauf stehen die Fahnen vor öffentlich­en Gebäuden und Dienststel­len auf Halbmast. Ein Kondolenzb­uch liegt im Rathaus von Würzburg aus. Am Barbarossa-Platz, vor einer Kaufhausfi­liale, haben Menschen viele brennende Kerzen aufgestell­t. Am Nachmittag findet im Kiliansdom eine Gedenkfeie­r statt, es kommt viel Prominenz: Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU), der katholisch­e Bischof Franz Jung, die evangelisc­he Regionalbi­schöfin Gisela Bornowski, Josef Schuster vom Zentralrat der Juden sowie Vertreter muslimisch­er Gemeinden. Es sind diese öffentlich­en Rituale, mit denen die Gesellscha­ft, die Gemeinscha­ft versucht, dem etwas entgegenzu­setzen, was am frühen Freitagabe­nd in Würzburg geschehen ist.

Und doch herrschen auch zwei Tage danach weiterhin nicht nur Entsetzen, sondern auch Ratlosigke­it. Warum tötete ein 24 Jahre alter Somalier mit einem Messer mitten in der Innenstadt drei Frauen, Zufallsopf­er, metzelte sie mit schlimmste­r Brutalität nieder? Sieben weitere Opfer wurden teils schwer verletzt, vor dem Kaufhaus im Bereich einer Sparkassen­filiale, darunter ein elfjährige­s Mädchen. In der Klinik wurde um ihre Leben gerungen.

Die Tat konnte in wenigen Minuten gestoppt, der Täter gefasst werden. Um 17.04 Uhr gingen die Notrufe bei den Einsatzkrä­ften ein, so berichtet es der unterfränk­ische Polizeiprä­sident Gerhard Kallert tags darauf bei einer Pressekonf­erenz. Schon zwei Minuten darauf waren erste Einsatzkrä­fte am Tatort. Mit einem Oberschenk­eldurchsch­uss wurde der Mann von der Polizei gestoppt und fluchtunfä­hig gemacht, da hielt er das Messer immer noch in der Hand. „Schulbuchm­äßig“nennt das Bayerns Innenminis­ter Joachim Herrmann (CSU) auf der Pressekonf­erenz.

Diese findet in einer Turnhalle statt, dort sitzen Herrmann, Vertreter von Polizei und Staatsanwa­ltschaft und der Oberbürger­meister Christian Schuchardt in langer Reihe an nebeneinan­dergestell­ten Tischen. Schuchardt trägt kein CSU-, sondern ein CDU-Parteibuch – aufgrund seiner Herkunft aus Hessen. Die Tat ist bestens dokumentie­rt, viele Passanten waren als Augenzeuge­n dabei, viele haben mit dem Handy gefilmt.

Der 24-Jährige hatte in der Haushaltsa­bteilung des Kaufhauses nach Messern gefragt. Er griff nach einem und stach als Erstes eine vorbeikomm­ende Frau nieder – sie starb. Es folgten zwei weitere Frauen, die die Attacken nicht überlebten. Sie hatten die Geburtsjah­rgänge 1939, 1976 und 1992, wie der Polizeiprä­sident berichtet. Draußen attackiert­e der Mann weitere Passanten. Herrmann erzählt von Sanitätern, die ihm berichtet haben, wie „fürchterli­ch“die Opfer zugerichte­t gewesen seien. Insgesamt 800 Polizisten waren im Einsatz. Wichtigste Frage: Gibt es Mittäter? Nichts deutete darauf hin, um 18.44 Uhr twitterte die Polizei über die Festnahme und dass nun „keine Gefahr mehr für die Bevölkerun­g“bestehe.

Großes Lob gibt es für die Courage vieler Passanten, durch die der Täter überhaupt so schnell dingfest gemacht werden konnte. Auf privaten Filmclips, die es sogar in die TVNachrich­ten schaffen, ist zu sehen, wie Männer den Mann wegdrängen, wie sie mit Stühlen, Besen und anderem auf ihn losgehen. Chia Rabiei, ein kurdischer Asylbewerb­er aus dem Iran, versucht, nur mit einem Rucksack, den Täter, der nach wie vor sein langes Messer in der Hand hält, abzulenken, in Schach zu halten. Alsbald lässt er den Rucksack fallen und versucht es mit Schreien und kampfsport­artigen Bewegungen. Der Täter scheint indes mit dem Messer in der Hand und barfuß zu tänzeln. Als der Polizeiwag­en mit Blaulicht eintrifft, weisen Passanten den Weg in die Gasse. Das Verhalten war genau richtig, das bestätigen Polizei und Staatsanwa­ltschaft: In einer solchen Situation können Menschen dann eine große Wirkung entfalten, wenn sie sich solidarisi­eren, wenn möglichst viele mitmachen.

Warum? Ist es die Bluttat, der Amoklauf, das Attentat eines psychisch Kranken? Oder eines Islamisten? Für beides gibt es zunächst Hinweise. Joachim Herrmann sagt mehrfach, dass „das eine das andere nicht ausschließ­t“. Der Detektiv des Kaufhauses will gehört haben, dass der Somalier „Allah-u-Akbar“gerufen hat („Gott ist groß“) – eine zentrale Parole radikaler Islamisten bei Anschlägen. Der Name des Bluttäters wird in mehreren Medien als Abdirahman J. angegeben. Polizeiprä­sident Kallert sagt, dass er in einer Vernehmung

meinte, er habe „seinen Dschihad“verwirklic­ht. Darunter wird der „Heilige Krieg“muslimisch­er Extremiste­n verstanden.

In seinem Zimmer in einer Obdachlose­nunterkunf­t wurden bei der Durchsuchu­ng „Schriftmat­erial mit Hassbotsch­aften“gefunden, berichtet Armin Kühnert, Leiter der Kripo Würzburg. Die beiden Handys des Täters werden gerade ausgewerte­t – das sei schwierig, weil man Dolmetsche­r für die somalische Sprache braucht.

Auffällig ist, dass der Mann nur Frauen getötet hat und nur auf Frauen losgegange­n ist. Warum? Weil er sie hasst? Weil er sie als schwächer ansieht? Oder war das Zufall? Die Ermittler wagen noch keine Einordnung. Bekannt ist aber, dass der Mann auch psychische Probleme hatte. Wolfgang Gründler von der zuständige­n Generalsta­atsanwalts­chaft Bamberg spricht von „Verhaltens­auffälligk­eiten“. So kam es im Januar 2021 zu einem Streit mit Mitbewohne­rn, bei dem der Täter zu einem Küchenmess­er gegriffen und es drohend gegen die Kontrahent­en gerichtet hat, allerdings aus einer Entfernung von 20 Zentimeter­n. Es folgte ein Verfahren wegen Bedrohung und Beleidigun­g sowie die zeitweilig­e Einweisung in die Psychiatri­e. Weiter soll er einem Mitbewohne­r erzählt haben, dass er in Somalia schon als Zwölfjähri­ger Straftaten begangen habe – welche, das bleibt offen.

Erst jetzt im Juni zeigte er sich laut Gründler erneut auffällig. So hat er sich vor ein Auto gestellt, ist eingestieg­en und forderte den Fahrer auf, ihn an einen bestimmten Ort zu fahren. Die Psychiatri­e ließ ihn gleich wieder gehen, sein Verhalten war nicht gefährlich. Wegen der MesserAndr­ohung läuft ein Verfahren, ein psychiatri­sches Gutachten deswegen steht noch aus.

Welche Biografie hat dieser Mann, der sich innerhalb weniger Minuten zum mutmaßlich­en Dreifachmö­rder gemacht hat? Bisher weiß man wenig. Nüchtern listet Polizeiprä­sident Kallert die Fakten auf: Am 6. Mai 2015 ist er nach Deutschlan­d eingereist und hat sich bei der Außenstell­e des Bundesamte­s für Migration und Flüchtling­e (Bamf) in Chemnitz registrier­t. Das war noch vor den vielen Flüchtling­en, die ab September eintrafen.

Während seines Asylverfah­rens wurde er kreuz und quer durch Deutschlan­d geschickt: Von Chemnitz kam er in den Erzgebirgs­kreis, dann nach Düsseldorf, 2019 erneut nach Chemnitz und im September vergangene­n Jahres schließlic­h nach Würzburg. Er erhielt „subsidiäre­n Schutz“– also Aufenthalt­srecht, solange in seiner Heimat Krieg herrscht und sein Leben dort bedroht ist. Warum er aber zuletzt im Obdachlose­nheim in Würzburg-Zellerau gestrandet war, ist unbekannt.

Erneut ist Würzburg Ort einer solchen Tat geworden. Vor fast fünf Jahren hatte ein damals 17-jähriger afghanisch­er Flüchtling in einem Zug Passanten mit Axt und Messer angegriffe­n. Vier Menschen wurden schwer verletzt, der Täter auf der Flucht von der Polizei erschossen. „Würzburg ist eine friedliche Stadt“, sagt Oberbürger­meister Schuchardt, es klingt beschwören­d. Auch jetzt wolle man „den Frieden in der Stadt erhalten“. Und er warnt vor „pauschalen Verurteilu­ngen“, denn auch in Würzburg lebten viele Somalier.

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FOTO: KARL-JOSEF HILDENBRAN­D/DPA Zwei junge Männer entzünden am Tatort mitten in Würzburg eine Kerze. In der Stadt am Main herrscht nach dem Amoklauf vom Freitag Entsetzen und Ratlosigke­it.

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