Würzburg bleibt verstört zurück
Motiv des Amokläufers noch unklar – Das Eingreifen von Passanten hat Leben gerettet
- In Bayern ist an diesem Sonntag Trauerbeflaggung, auch an den beiden Tagen darauf stehen die Fahnen vor öffentlichen Gebäuden und Dienststellen auf Halbmast. Ein Kondolenzbuch liegt im Rathaus von Würzburg aus. Am Barbarossa-Platz, vor einer Kaufhausfiliale, haben Menschen viele brennende Kerzen aufgestellt. Am Nachmittag findet im Kiliansdom eine Gedenkfeier statt, es kommt viel Prominenz: Ministerpräsident Markus Söder (CSU), der katholische Bischof Franz Jung, die evangelische Regionalbischöfin Gisela Bornowski, Josef Schuster vom Zentralrat der Juden sowie Vertreter muslimischer Gemeinden. Es sind diese öffentlichen Rituale, mit denen die Gesellschaft, die Gemeinschaft versucht, dem etwas entgegenzusetzen, was am frühen Freitagabend in Würzburg geschehen ist.
Und doch herrschen auch zwei Tage danach weiterhin nicht nur Entsetzen, sondern auch Ratlosigkeit. Warum tötete ein 24 Jahre alter Somalier mit einem Messer mitten in der Innenstadt drei Frauen, Zufallsopfer, metzelte sie mit schlimmster Brutalität nieder? Sieben weitere Opfer wurden teils schwer verletzt, vor dem Kaufhaus im Bereich einer Sparkassenfiliale, darunter ein elfjähriges Mädchen. In der Klinik wurde um ihre Leben gerungen.
Die Tat konnte in wenigen Minuten gestoppt, der Täter gefasst werden. Um 17.04 Uhr gingen die Notrufe bei den Einsatzkräften ein, so berichtet es der unterfränkische Polizeipräsident Gerhard Kallert tags darauf bei einer Pressekonferenz. Schon zwei Minuten darauf waren erste Einsatzkräfte am Tatort. Mit einem Oberschenkeldurchschuss wurde der Mann von der Polizei gestoppt und fluchtunfähig gemacht, da hielt er das Messer immer noch in der Hand. „Schulbuchmäßig“nennt das Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) auf der Pressekonferenz.
Diese findet in einer Turnhalle statt, dort sitzen Herrmann, Vertreter von Polizei und Staatsanwaltschaft und der Oberbürgermeister Christian Schuchardt in langer Reihe an nebeneinandergestellten Tischen. Schuchardt trägt kein CSU-, sondern ein CDU-Parteibuch – aufgrund seiner Herkunft aus Hessen. Die Tat ist bestens dokumentiert, viele Passanten waren als Augenzeugen dabei, viele haben mit dem Handy gefilmt.
Der 24-Jährige hatte in der Haushaltsabteilung des Kaufhauses nach Messern gefragt. Er griff nach einem und stach als Erstes eine vorbeikommende Frau nieder – sie starb. Es folgten zwei weitere Frauen, die die Attacken nicht überlebten. Sie hatten die Geburtsjahrgänge 1939, 1976 und 1992, wie der Polizeipräsident berichtet. Draußen attackierte der Mann weitere Passanten. Herrmann erzählt von Sanitätern, die ihm berichtet haben, wie „fürchterlich“die Opfer zugerichtet gewesen seien. Insgesamt 800 Polizisten waren im Einsatz. Wichtigste Frage: Gibt es Mittäter? Nichts deutete darauf hin, um 18.44 Uhr twitterte die Polizei über die Festnahme und dass nun „keine Gefahr mehr für die Bevölkerung“bestehe.
Großes Lob gibt es für die Courage vieler Passanten, durch die der Täter überhaupt so schnell dingfest gemacht werden konnte. Auf privaten Filmclips, die es sogar in die TVNachrichten schaffen, ist zu sehen, wie Männer den Mann wegdrängen, wie sie mit Stühlen, Besen und anderem auf ihn losgehen. Chia Rabiei, ein kurdischer Asylbewerber aus dem Iran, versucht, nur mit einem Rucksack, den Täter, der nach wie vor sein langes Messer in der Hand hält, abzulenken, in Schach zu halten. Alsbald lässt er den Rucksack fallen und versucht es mit Schreien und kampfsportartigen Bewegungen. Der Täter scheint indes mit dem Messer in der Hand und barfuß zu tänzeln. Als der Polizeiwagen mit Blaulicht eintrifft, weisen Passanten den Weg in die Gasse. Das Verhalten war genau richtig, das bestätigen Polizei und Staatsanwaltschaft: In einer solchen Situation können Menschen dann eine große Wirkung entfalten, wenn sie sich solidarisieren, wenn möglichst viele mitmachen.
Warum? Ist es die Bluttat, der Amoklauf, das Attentat eines psychisch Kranken? Oder eines Islamisten? Für beides gibt es zunächst Hinweise. Joachim Herrmann sagt mehrfach, dass „das eine das andere nicht ausschließt“. Der Detektiv des Kaufhauses will gehört haben, dass der Somalier „Allah-u-Akbar“gerufen hat („Gott ist groß“) – eine zentrale Parole radikaler Islamisten bei Anschlägen. Der Name des Bluttäters wird in mehreren Medien als Abdirahman J. angegeben. Polizeipräsident Kallert sagt, dass er in einer Vernehmung
meinte, er habe „seinen Dschihad“verwirklicht. Darunter wird der „Heilige Krieg“muslimischer Extremisten verstanden.
In seinem Zimmer in einer Obdachlosenunterkunft wurden bei der Durchsuchung „Schriftmaterial mit Hassbotschaften“gefunden, berichtet Armin Kühnert, Leiter der Kripo Würzburg. Die beiden Handys des Täters werden gerade ausgewertet – das sei schwierig, weil man Dolmetscher für die somalische Sprache braucht.
Auffällig ist, dass der Mann nur Frauen getötet hat und nur auf Frauen losgegangen ist. Warum? Weil er sie hasst? Weil er sie als schwächer ansieht? Oder war das Zufall? Die Ermittler wagen noch keine Einordnung. Bekannt ist aber, dass der Mann auch psychische Probleme hatte. Wolfgang Gründler von der zuständigen Generalstaatsanwaltschaft Bamberg spricht von „Verhaltensauffälligkeiten“. So kam es im Januar 2021 zu einem Streit mit Mitbewohnern, bei dem der Täter zu einem Küchenmesser gegriffen und es drohend gegen die Kontrahenten gerichtet hat, allerdings aus einer Entfernung von 20 Zentimetern. Es folgte ein Verfahren wegen Bedrohung und Beleidigung sowie die zeitweilige Einweisung in die Psychiatrie. Weiter soll er einem Mitbewohner erzählt haben, dass er in Somalia schon als Zwölfjähriger Straftaten begangen habe – welche, das bleibt offen.
Erst jetzt im Juni zeigte er sich laut Gründler erneut auffällig. So hat er sich vor ein Auto gestellt, ist eingestiegen und forderte den Fahrer auf, ihn an einen bestimmten Ort zu fahren. Die Psychiatrie ließ ihn gleich wieder gehen, sein Verhalten war nicht gefährlich. Wegen der MesserAndrohung läuft ein Verfahren, ein psychiatrisches Gutachten deswegen steht noch aus.
Welche Biografie hat dieser Mann, der sich innerhalb weniger Minuten zum mutmaßlichen Dreifachmörder gemacht hat? Bisher weiß man wenig. Nüchtern listet Polizeipräsident Kallert die Fakten auf: Am 6. Mai 2015 ist er nach Deutschland eingereist und hat sich bei der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) in Chemnitz registriert. Das war noch vor den vielen Flüchtlingen, die ab September eintrafen.
Während seines Asylverfahrens wurde er kreuz und quer durch Deutschland geschickt: Von Chemnitz kam er in den Erzgebirgskreis, dann nach Düsseldorf, 2019 erneut nach Chemnitz und im September vergangenen Jahres schließlich nach Würzburg. Er erhielt „subsidiären Schutz“– also Aufenthaltsrecht, solange in seiner Heimat Krieg herrscht und sein Leben dort bedroht ist. Warum er aber zuletzt im Obdachlosenheim in Würzburg-Zellerau gestrandet war, ist unbekannt.
Erneut ist Würzburg Ort einer solchen Tat geworden. Vor fast fünf Jahren hatte ein damals 17-jähriger afghanischer Flüchtling in einem Zug Passanten mit Axt und Messer angegriffen. Vier Menschen wurden schwer verletzt, der Täter auf der Flucht von der Polizei erschossen. „Würzburg ist eine friedliche Stadt“, sagt Oberbürgermeister Schuchardt, es klingt beschwörend. Auch jetzt wolle man „den Frieden in der Stadt erhalten“. Und er warnt vor „pauschalen Verurteilungen“, denn auch in Würzburg lebten viele Somalier.