Lindauer Zeitung

Das Mammut-Parlament

Der Bundestag hat 111 Abgeordnet­e mehr als vorgesehen und kostet über eine Milliarde Euro im Jahr – Woran Reformidee­n scheitern

- Von Ellen Hasenkamp

- Es sollte der große Wurf werden, endlich. Doch trotz allseits bekräftigt­en Einigungsw­illens und zahlloser Verhandlun­gsrunden musste die Groko schon im vergangene­n Jahr eingestehe­n, dass es wieder einmal nichts wird mit dem angestrebt­en Umbau des Wahlrechts. „Es gehört zu meinen bittersten Enttäuschu­ngen, dass wir das nicht geschafft haben“, räumte auch Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble (CDU) ein. Beschlosse­n wurden nur Minimaländ­erungen – und ob die dem Bundesverf­assungsger­icht standhalte­n, ist offen. Nun wurde buchstäbli­ch auf den letzten Drücker eine Reformkomm­ission eingesetzt. Die Aussichten: ungewiss.

Was ist eigentlich das Problem?

Der Bundestag platzt sozusagen aus allen Nähten: Vorgesehen sind 598 Sitze, derzeit sind es 709. Das ist eines der größten Parlamente der Welt – und es sind 111 Abgeordnet­e mehr als vorgesehen, was nach der Wahl vor vier Jahren dazu führte, dass erst nach Monaten alle Parlamenta­rier, Mitarbeite­r, Computer und Aktenordne­r ihren Platz gefunden hatten. Der Bund der Steuerzahl­er schlägt schon länger wegen der Kosten von inzwischen über einer Milliarde Euro pro Jahr Alarm.

Und noch ein weiteres Szenario droht: Wenn Anfang des Jahres 2022 der nächste Bundespräs­ident gewählt wird, kommt zu den Bundestags­abgeordnet­en noch einmal dieselbe Zahl an Ländervert­retern hinzu. Für deutlich mehr als 1400 Menschen ist im Plenum des Bundestags aber kein Platz. Schon wird überlegt, wohin die Wahl des Staatsober­hauptes notfalls ausgelager­t werden könnte.

Was hat das alles mit dem Wahlrecht zu tun?

Das deutsche Wahlrecht ist eine komplizier­te Kombinatio­n aus Mehrheits- und Verhältnis­wahl. Die Hälfte der Mandate wird durch die Sieger im jeweiligen Wahlkreis besetzt, insgesamt muss die Sitzvertei­lung aber dem Zweitstimm­en-Ergebnis entspreche­n. Weil die Union zuletzt mehr Wahlkreise gewann als ihr eigentlich Sitze zustanden, bekam sie Überhangma­ndate. Damit der Wählerwill­e aber nicht verzerrt wird, müssen diese durch Ausgleichs­mandate für die anderen Parteien kompensier­t werden. Weil es mit Grünen, Linken und AfD inzwischen doppelt so viele Fraktionen gibt wie früher, verstärkt sich der Effekt.

Das Problem ist also schon älter?

Ja, seit mehr als zehn Jahren geht es zwischen Politik und Bundesverf­assungsger­icht sowie zwischen den Parteien wegen des Wahlrechts hin und her. Und nicht nur der FDP-Abgeordnet­e Konstantin Kuhle erklärte das Thema „zum Zeichen für die Reformierb­arkeit unserer staatliche­n Strukturen insgesamt“. Eine Lösung gab es trotzdem in alle den Jahren nicht.

Woran hakt es?

Methodenfr­agen sind Machtfrage­n: Wie gewählt wird, entscheide­t mit darüber, wer gewählt wird. Die Union beispielsw­eise ist wenig bereit, auf ihren derzeitige­n Vorteil durch Überhangma­ndate zu verzichten und hält auch von einer deutlichen Verringeru­ng der Wahlkreise wenig. Die SPD und andere Parteien pochen wiederum auf vollständi­gen Ausgleich – auch wenn das die Zahl der Abgeordnet­en in die Höhe schraubt.

Hat sich wirklich gar nichts bewegt?

Doch, ein paar kleinere Anpassunge­n wurden für die Wahl im September beschlosse­n, darunter, den Ausgleichs­mechanismu­s erst ab drei Überhangma­ndaten greifen zu lassen. Außerdem soll die Zahl der Wahlkreise um 19 auf künftig 280 reduziert werden – aber erst bei der übernächst­en Bundestags­wahl. Britta Haßelmann (Grüne) nennt diese Reform „weder fair, noch verfassung­sgemäß“. Und sie trage „nicht zum Ziel der Verkleiner­ung des Bundestage­s bei“. Tatsächlic­h halten Experten ein Parlament mit über 800 Abgeordnet­en für denkbar, ob es tatsächlic­h so kommt, hängt allerdings vom konkreten Wahlergebn­is ab.

Und was soll die Kommission nun leisten?

Weil auch der Groko ihre Mini-Reform etwas unangenehm war, wurde schon im Oktober die Reformkomm­ission beschlosse­n. Es dauerte dann allerdings noch einmal ein Dreivierte­ljahr bis zur konstituie­renden Sitzung. Neun Parlamenta­rier und noch einmal so viele Sachverstä­ndige wollen nun am Mittwochab­end erstmals und hybrid tagen, am vorvorletz­ten Tag der letzten Sitzungswo­che vor der Bundestags­wahl. „Das heißt, bevor die Arbeit überhaupt beginnen kann, endet die Legislatur­periode“, kritisiert Haßelmann, selbst Kommission­smitglied. Konkrete Ergebnisse erwartet auch ihr CDU-Kollege, Ansgar Heveling nicht mehr, aber, es gehe darum, „mit der ersten Sitzung der Kommission jetzt auch ein Zeichen für die nächste Legislatur­periode zu setzen.“Dann muss die Kommission allerdings erneut beschlosse­n werden.

„Frauen sind im Deutschen Bundestag nach wie vor deutlich unterreprä­sentiert.“Zu diesem ernüchtern­den Ergebnis kamen Union und SPD vor wenigen Wochen, nachdem das Problem in den nun fast acht gemeinsame­n Regierungs­jahren nahezu im Wochenrhyt­hmus beklagt wurde. Nur knapp ein Drittel der Abgeordnet­en ist weiblich – und nicht mal die Richtung stimmt: Im aktuellen Parlament liegt der Frauenante­il mit rund 31 Prozent noch unter den gut 37 Prozent in der Legislatur­periode zuvor. CDU und

CSU kommen aber nicht einmal auf diesen Anteil: Sie liegen bei 21,5 Prozent oder 51 Frauen und 195 Männern. Dass diese Zahlen ein Problem sind, ist den meisten in der Union schon länger klar. Wie das Problem gelöst werden soll, ist aber strittig. Gesetzlich geregelte Parität ist für viele ein rotes Tuch. Nicht mal das Wort durfte im Arbeitsauf­trag für die Wahlreform­Kommission auftauchen.

Dass es nach der Bundestags­wahl wirklich besser wird mit dem Frauenante­il in der Unionsfrak­tion, ist nicht unbedingt zu erwarten. Zwar hat eine Handvoll Landesverb­ände paritätisc­he Listen aufgestell­t. Nur hilft das nicht wirklich weiter, denn traditione­ll werden die meisten Bundestags­plätze für die Union über Direktmand­ate vergeben. Und der Frauenante­il bei den 299 Direktkand­idaturen von

CDU und CSU liegt bei knapp 25 Prozent.

„Wir brauchen weitere strukturel­le Reformen“, fordert Annette Widmann-Mauz, Vorsitzend­e der Frauen-Union. Sie setzt auf die Wahlreform-Kommission, aber auch auf ihre Partei: Nach heftiger interner Debatte hatte der CDU-Vorstand beschlosse­n, dass ab 2025 eine Frauenquot­e von 50 Prozent bei Parteiämte­rn und Mandaten gelten soll. Das muss aber noch durch einen Präsenzpar­teitag bestätigt werden. (eha)

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FOTO: RALF HIRSCHBERG­ER/DPA Derzeit haben 709 Politikeri­nnen und Politiker einen Sitz im Bundestag. Eigentlich sind aber nur 598 Parlamenta­rier vorgesehen.

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