Auch Frauen können Mathe
Das Kunstmuseum Stuttgart hat grandiose konkrete Künstlerinnen aufgespürt
- Wenn man einst im Matheunterricht gleich- und rechtschenklige Rechtecke vermessen musste, hätte man nicht gedacht, dass man mit diesen schnöden geometrischen Formen noch mehr anstellen kann. Dabei können sie tanzen und toben und so fröhlich auf der Fläche verteilt werden, dass es gute Laune macht. Die konkreten Künstler wollten sich vom Ballast des Gegenstands befreien und entdeckten ihr Liebe zu Kreisen, Rechtecken und Quadraten. Bisher war es korrekt, von Künstlern zu sprechen. Denn konkrete Kunst galt gemeinhin als Männersache. Sie waren es, die in ihrer Kunst logische Systeme mit wissenschaftlicher Akkuratesse durchspielten.
Das Kunstmuseum Stuttgart erbringt nun den Gegenbeweis, nämlich, dass es sehr wohl auch konkrete Künstlerinnen gab, die allerdings meist in den Büchern unterschlagen wurden. „Zwischen System & Intuition“nennt sich die neue Ausstellung, in der zwölf konkrete Künstlerinnen vorgestellt werden, die mindestens so gut wie die Männer mit Rechteck und Kreis umzugehen wussten. Allerdings gingen sie dabei oft nicht so akademisch und streng vor, sondern erlaubten sich Freiheiten. Deshalb ist die Ausstellung eine doppelte Entdeckung. Die Werke sind so frisch und lebendig, wie man die konkrete Kunst selten erlebt hat. Geometrie kann eben doch Spaß machen.
Es gibt viel zu entdecken: vor allem Verena Loewensberg (1912 bis 1986), eine Schweizer Künstlerin, die sich mit dem Verkauf von experimentellen Jazzplatten über Wasser hielt, aber auch grandiose Werke von ungeheuer sinnlicher Kraft schuf. Mit leichter Hand ließ sie blaue Dreiecke über eine satte gelbe Fläche flattern, dann wieder tat sie nichts anderes, als Farbstreifen übereinander zu setzen, wobei die Farbtöne und -mischungen so delikat sind, dass einem das Herz aufzugehen scheint. „Ich folge Stimmungen“, sagt Loewensberg, „und die Stimmungen nehmen ganz selbstverständlich Gestalt an in einem konstruktiven Sinn.“
Verena Loewensberg gehörte zum Kern der Zürcher Schule der Konkreten, trotzdem wird in den Nachschlagewerken meist nur Max Bill genannt. Dabei war Loewensberg erfolgreich und in zahlreichen Gruppenausstellungen zur konkreten Kunst vertreten, in London, Paris, Mailand und sogar in Japan und den USA. Sonia Delaunay verdiente sogar gutes Geld mit ihrer Kunst. Sie betrieb das Modelabel „Simultané“und leitete die Farbkontraste ihrer Marke von ihrer Malerei ab.
Die Sommerkleider aus den 1920er-Jahren in der Ausstellung richteten sich an die moderne Frau, die burschikos und sportlich war – und nicht mehr Figurbetontes tragen wollte. Delaunays Krawatte aus dem Jahr 1933 ist mit roten, gelben, blauen und grauen Rechtecken übersät, womit sie sich in Paris Freiheiten erlaubte, die im nationalsozialistischen Deutschland undenkbar gewesen wären.
Auch Design kann eben durchaus politisch sein. Dass die Künstlerinnen hinter den Männern zurückstehen mussten, lag aber auch daran, dass sie sich häufig den Angewandten Künsten widmeten – selbst wenn sie mit ihren Entwürfen ihre Männer mitfinanzierten wie Sonia Delaunay, die mit dem Maler Robert Delaunay verheiratet war. Die Künstlerinnen hätten auch nicht versucht, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, meint Eva-Marina Froitzheim, die die Ausstellung kuratiert hat. Das macht aus ihrer Sicht sogar den besonderen Geist ihrer Arbeiten aus: „Frauen sind einen anderen Weg gegangen“, sagt Froitzheim, „sie hatten ein zutiefst demokratisches Verständnis“. Denn sie wollten ihrem
Publikum größtmögliche Freiheit lassen bei der Betrachtung und sie nicht durch allzu strikte Gesetzmäßigkeiten gängeln.
Die Ausstellung stellt zwei Generationen konkreter Künstlerinnen vor, aus der ersten und aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nach dem Zweiten Weltkrieg scheinen die wichtigen Weichen der konkreten Kunst allerdings gestellt zu sein, weshalb Neuerungen nun eher im Detail stattfinden. Vera Molnar war eine Pionierin der Computerkunst. So spektakulär diese neue Methode der Kunstproduktion war, die Zeichnungen, die der Drucker ausgespuckt hat, sind dann doch etwas spröde. Und wenn Lily Greenham bunte Muster aus Bastelpapier in einem Kasten unterschiedlich beleuchtet, so ist das eher als historisches Dokument künstlerischer Experimente der Sechzigerjahre interessant.
Auch die abstrakten Stoffmuster, die Sophie Taeuber-Arp entwarf, sind heute längst im Alltag angekommen. Anfang des 20. Jahrhunderts waren sie dagegen absolut radikal und innovativ – keine Symmetrien, keine festen Motivfolgen. Das ist es, was den Reiz der konkreten Künstlerinnen ausmacht, dass sie die Regeln der Geometrie beherrscht haben mögen, sich ihnen aber nicht wie manche ihrer Kollegen allzu sklavisch verschrieben haben.
Die Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart ist zu sehen bis zum
17. Oktober.