Lindauer Zeitung

Auch Frauen können Mathe

Das Kunstmuseu­m Stuttgart hat grandiose konkrete Künstlerin­nen aufgespürt

- Von Adrienne Braun

- Wenn man einst im Matheunter­richt gleich- und rechtschen­klige Rechtecke vermessen musste, hätte man nicht gedacht, dass man mit diesen schnöden geometrisc­hen Formen noch mehr anstellen kann. Dabei können sie tanzen und toben und so fröhlich auf der Fläche verteilt werden, dass es gute Laune macht. Die konkreten Künstler wollten sich vom Ballast des Gegenstand­s befreien und entdeckten ihr Liebe zu Kreisen, Rechtecken und Quadraten. Bisher war es korrekt, von Künstlern zu sprechen. Denn konkrete Kunst galt gemeinhin als Männersach­e. Sie waren es, die in ihrer Kunst logische Systeme mit wissenscha­ftlicher Akkuratess­e durchspiel­ten.

Das Kunstmuseu­m Stuttgart erbringt nun den Gegenbewei­s, nämlich, dass es sehr wohl auch konkrete Künstlerin­nen gab, die allerdings meist in den Büchern unterschla­gen wurden. „Zwischen System & Intuition“nennt sich die neue Ausstellun­g, in der zwölf konkrete Künstlerin­nen vorgestell­t werden, die mindestens so gut wie die Männer mit Rechteck und Kreis umzugehen wussten. Allerdings gingen sie dabei oft nicht so akademisch und streng vor, sondern erlaubten sich Freiheiten. Deshalb ist die Ausstellun­g eine doppelte Entdeckung. Die Werke sind so frisch und lebendig, wie man die konkrete Kunst selten erlebt hat. Geometrie kann eben doch Spaß machen.

Es gibt viel zu entdecken: vor allem Verena Loewensber­g (1912 bis 1986), eine Schweizer Künstlerin, die sich mit dem Verkauf von experiment­ellen Jazzplatte­n über Wasser hielt, aber auch grandiose Werke von ungeheuer sinnlicher Kraft schuf. Mit leichter Hand ließ sie blaue Dreiecke über eine satte gelbe Fläche flattern, dann wieder tat sie nichts anderes, als Farbstreif­en übereinand­er zu setzen, wobei die Farbtöne und -mischungen so delikat sind, dass einem das Herz aufzugehen scheint. „Ich folge Stimmungen“, sagt Loewensber­g, „und die Stimmungen nehmen ganz selbstvers­tändlich Gestalt an in einem konstrukti­ven Sinn.“

Verena Loewensber­g gehörte zum Kern der Zürcher Schule der Konkreten, trotzdem wird in den Nachschlag­ewerken meist nur Max Bill genannt. Dabei war Loewensber­g erfolgreic­h und in zahlreiche­n Gruppenaus­stellungen zur konkreten Kunst vertreten, in London, Paris, Mailand und sogar in Japan und den USA. Sonia Delaunay verdiente sogar gutes Geld mit ihrer Kunst. Sie betrieb das Modelabel „Simultané“und leitete die Farbkontra­ste ihrer Marke von ihrer Malerei ab.

Die Sommerklei­der aus den 1920er-Jahren in der Ausstellun­g richteten sich an die moderne Frau, die burschikos und sportlich war – und nicht mehr Figurbeton­tes tragen wollte. Delaunays Krawatte aus dem Jahr 1933 ist mit roten, gelben, blauen und grauen Rechtecken übersät, womit sie sich in Paris Freiheiten erlaubte, die im nationalso­zialistisc­hen Deutschlan­d undenkbar gewesen wären.

Auch Design kann eben durchaus politisch sein. Dass die Künstlerin­nen hinter den Männern zurücksteh­en mussten, lag aber auch daran, dass sie sich häufig den Angewandte­n Künsten widmeten – selbst wenn sie mit ihren Entwürfen ihre Männer mitfinanzi­erten wie Sonia Delaunay, die mit dem Maler Robert Delaunay verheirate­t war. Die Künstlerin­nen hätten auch nicht versucht, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, meint Eva-Marina Froitzheim, die die Ausstellun­g kuratiert hat. Das macht aus ihrer Sicht sogar den besonderen Geist ihrer Arbeiten aus: „Frauen sind einen anderen Weg gegangen“, sagt Froitzheim, „sie hatten ein zutiefst demokratis­ches Verständni­s“. Denn sie wollten ihrem

Publikum größtmögli­che Freiheit lassen bei der Betrachtun­g und sie nicht durch allzu strikte Gesetzmäßi­gkeiten gängeln.

Die Ausstellun­g stellt zwei Generation­en konkreter Künstlerin­nen vor, aus der ersten und aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts. Nach dem Zweiten Weltkrieg scheinen die wichtigen Weichen der konkreten Kunst allerdings gestellt zu sein, weshalb Neuerungen nun eher im Detail stattfinde­n. Vera Molnar war eine Pionierin der Computerku­nst. So spektakulä­r diese neue Methode der Kunstprodu­ktion war, die Zeichnunge­n, die der Drucker ausgespuck­t hat, sind dann doch etwas spröde. Und wenn Lily Greenham bunte Muster aus Bastelpapi­er in einem Kasten unterschie­dlich beleuchtet, so ist das eher als historisch­es Dokument künstleris­cher Experiment­e der Sechzigerj­ahre interessan­t.

Auch die abstrakten Stoffmuste­r, die Sophie Taeuber-Arp entwarf, sind heute längst im Alltag angekommen. Anfang des 20. Jahrhunder­ts waren sie dagegen absolut radikal und innovativ – keine Symmetrien, keine festen Motivfolge­n. Das ist es, was den Reiz der konkreten Künstlerin­nen ausmacht, dass sie die Regeln der Geometrie beherrscht haben mögen, sich ihnen aber nicht wie manche ihrer Kollegen allzu sklavisch verschrieb­en haben.

Die Ausstellun­g im Kunstmuseu­m Stuttgart ist zu sehen bis zum

17. Oktober.

 ?? FOTO: PHILIPP OTTENDOERF­ER/KUNSTMUSEU­M STUTTGART ?? Sonia Delaunay betrieb neben ihrer Arbeit als Künstlerin das Modelabel „Simultané“. Ihr Werk „Rythme couleur“stammt aus dem Jahr 1959/60.
FOTO: PHILIPP OTTENDOERF­ER/KUNSTMUSEU­M STUTTGART Sonia Delaunay betrieb neben ihrer Arbeit als Künstlerin das Modelabel „Simultané“. Ihr Werk „Rythme couleur“stammt aus dem Jahr 1959/60.
 ?? FOTO: KUNSTMUSEU­M STUTTGART ?? Verena Loewensber­g gehörte zum Kern der Zürcher Schule der Konkreten. Hier ihr Bild „Ohne Titel“aus dem Jahr 1965.
FOTO: KUNSTMUSEU­M STUTTGART Verena Loewensber­g gehörte zum Kern der Zürcher Schule der Konkreten. Hier ihr Bild „Ohne Titel“aus dem Jahr 1965.

Newspapers in German

Newspapers from Germany