Lindauer Zeitung

Das wird man doch noch sagen dürfen. Oder?

Um die Meinungsfr­eiheit soll es schlecht bestellt sein, legt eine Umfrage nahe – Aber ist dem auch so? – Über eine lautstarke Debatte in unruhigen Zeiten

- Von Dirk Grupe

Es geht um Mohrenköpf­e und Zigeunersc­hnitzel, um Nachrichte­nsprecher*innen und Politiker_innen. Es geht auch um Nationalge­fühl und um Muslime, um Emanzipati­on und Gleichbere­chtigung. Ja, es geht um nicht weniger als ein gefährdete­s „Freiheitsg­efühl der Bürger“, wie die „Frankfurte­r Allgemeine Zeitung“(FAZ) warnt, und laut „Bild“womöglich um noch viel mehr, denn: „Wir riskieren die Demokratie.“Andere sehen „die große Entmündigu­ng“oder kommentier­en im Ratgeberst­il: „Was jetzt passieren muss, um die Polarisier­ung im Land zu überwinden“. Nach der aufgeheizt­en Lektüre fragt sich der Leser erschöpft: Echt jetzt? Doch was genau hat den Furor ausgelöst?

Nicht mehr und nicht weniger als eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, in deren Mittelpunk­t die Frage steht: „Haben Sie das Gefühl, dass man in Deutschlan­d seine politische Meinung frei sagen kann, oder ist es besser, vorsichtig zu sein?“45 Prozent der Befragten äußerten, man könne seine Meinung frei sagen – und etwa gleich viele, nämlich 44 Prozent, widersprac­hen. Ein nicht geringer Wert, der den Aufschrei („Schockstud­ie“) in Teilen der Medien und Öffentlich­keit erklärt. Allensbach-Projektlei­ter Thomas Petersen schreibt dazu, dass die allermeist­en Menschen, die darüber klagen, man könne seine Meinung nicht frei äußern, durchaus um die Gesetze wissen, die ihnen genau dieses Recht garantiere­n. Deshalb beziehen sich die Klagen laut dem Forscher „auf die gesellscha­ftlichen Sanktionen, die drohen, wenn man gegen die Regeln der ,Political Correctnes­s’ verstößt“.

Wer sich mit Schaumküss­en und Schnitzeln „Balkan Art“genauso schwertut wie mit Genderster­nchen und Genderunte­rstrich, wird das Gefühl womöglich nachvollzi­ehen können. Es geht aber um noch mehr als eine Sprache, die nicht ohne Grund Minderheit­en und Geschlecht­ern gerecht werden soll. So gaben in der Studie 60 Prozent der Befragten an, dass es „heikel“sei, über Muslime und den Islam zu sprechen, auch Vaterlands­liebe und Patriotism­us finden viele schwierig, und noch 20 Prozent wollen sich bei Emanzipati­on und Gleichbere­chtigung nicht „den Mund verbrennen“. Aber ist dieses Ergebnis wirklich so überrasche­nd? Die Meinungsfr­eiheit gleich in Gefahr, weil sich die Leute bei politisch kontrovers­en Themen lieber „vorsichtig“äußern?

Den Sozialpsyc­hologen Thomas Roessing aus Dortmund verwundert das Umfrageerg­ebnis auf alle Fälle „gar nicht“, er forscht seit Jahren über die Mechanisme­n der öffentlich­en Meinung. Und weiß: „Es gehört zur Natur des Menschen, dass er nicht sozial isoliert werden will.“Bei moralisch aufgeladen­en Themen neigen die Leute daher zum Schweigen, wenn sie den Eindruck bekommen, die Mehrheit ist nicht auf ihrer Seite. „Denn wer dagegen verstößt, steht nicht nur als dumm da – sondern auch als schlechter Mensch.“Dass diese Gefahr bei Fragen zu Migration, Rassismus oder Gleichbere­chtigung höher ist als bei anderen, liegt nahe. Die Furcht vor sozialer Ächtung durch ein falsches Wort ist allerdings nicht neu.

So konnte es in den 1970er-Jahren heikel sein, sich politisch stark links zu äußern, wegen des möglichen Verdachts mit der terroristi­schen RAF zu sympathisi­eren. In den 1980er-Jahren verbrannte man sich schnell den Mund bei Themen wie Tierversuc­he oder Kernenergi­e. Thomas Roessing selbst wuchs im Rhein-Main-Gebiet auf, zu Zeiten der Proteste gegen die Startbahn West. „Kinder, deren Eltern beim Flughafen in Frankfurt arbeiteten, hatten damals in der Schule eine schwere Zeit, ihnen drohte nicht nur soziale Isolation, sondern Klassenkei­le.“Heute wird oft vermieden, sich kritisch über Ausländer zu äußern, weil die Thematik hierzuland­e stark verknüpft ist mit der Zeit des Nationalso­zialismus und rechter Gesinnung.

Die Furcht vor gesellscha­ftlicher Isolation ist aber keine Erfindung der modernen Gesellscha­ft. So wird schon in 3000 Jahre alten chinesisch­en Texten beschriebe­n, wie jemand, der gegen die öffentlich­e Auffassung verstößt, fertiggema­cht wird. Studien beschäftig­en sich mit ähnlichen Erzählunge­n aus dem Alten Testament oder Überliefer­ungen aus dem alten Rom. „Der Konformitä­tsdruck ist mal stärker, mal schwächer, die Themen manchmal andere, das Phänomen jedoch hat es immer und zu allen Zeiten gegeben“, sagt Roessing. Die Meinungsfr­eiheit muss deshalb aber nicht zwangsläuf­ig in Gefahr sein.

Bei der aktuellen Umfrage kommt ein weiteres Problem hinzu. Die zentrale Frage („Haben Sie das Gefühl, dass man in Deutschlan­d seine politische Meinung frei sagen kann, oder ist es besser, vorsichtig zu sein?“) stellt Allensbach seit 1953. Damals, noch unter den Nachwehen der nationalso­zialistisc­hen Herrschaft, mag die Verknüpfun­g zwischen „frei“und „vorsichtig“Sinn gemacht haben. Heute wirkt es so, als würden zwei unterschie­dliche

Aspekte (frei die Meinung äußern – Zurückhalt­ung bei sensiblen Themen) miteinande­r vermengt und so zumindest ein schiefes Meinungsbi­ld entstehen. Der Studie gänzlich den Erkenntnis­gewinn abzusprech­en, wäre allerdings falsch. Bemerkensw­ert sind die Ergebnisse vor allem im zeitlichen Vergleich, gaben seit den 1950er-Jahren doch noch nie so viele Befragte an, im Zweifel lieber schweigen zu wollen. Etwa weil der Konformitä­tsdruck heute ungewöhnli­ch stark wirkt? Und die moralisch aufgeladen­en Themen besonders zahlreich sind? Dem würde wohl kaum jemand widersprec­hen.

Ob bei Fragen der sexuellen Belästigun­g (MeToo), des alltäglich­en Rassismus (Black Lives Matter), der Ernährung (Veganer versus Fleischkon­sumenten) oder dem Streit um die Konsequenz­en aus dem Klimawande­l; kaum ein Bereich, der nicht im Brennpunkt von Debatten steht, der gesellscha­ftliche Brüche offenbart und somit reichlich Fallstrick­e bietet, auf der „falschen“Seite zu stehen. Denn vieles, was früher als richtig und unverfängl­ich galt, wird heute angezweife­lt.

Verschärfe­nd für das Meinungskl­ima kamen zuletzt zwei „epochale Ereignisse“dazu, wie der Kommunikat­ionswissen­schaftler Carsten Reinemann von der Universitä­t München erklärt; erst die Flüchtling­skrise und dann die CoronaKris­e. „Die Debatten darüber wurden teilweise so heftig bis in Familien und Freundeskr­eise geführt, dass man die Themen gar nicht mehr aufmachen will“, so Reinemann zur „Schwäbisch­en Zeitung“.

In der Tat kann wohl jeder von schwierige­n Situatione­n im Privaten berichten, bei denen es um die Flüchtling­spolitik ging, um Lockdown und Maskenpfli­cht, um Verschwöru­ngstheorie­n, Abstandspf­licht oder Ansichten zum Impfen. Eben um Gespräche, bei denen die Emotionen und Gegensätze hochkamen und manche Beziehung für den Moment nur durch Schweigen auszuhalte­n war. Aber mal Hand aufs Herz: Riskieren wir deshalb gleich unsere Demokratie?

Am ehesten neigen zu dieser Ansicht noch die Anhänger der

AfD, die in der Umfrage zu 62 Prozent angaben, ihre Meinung nicht mehr frei äußern zu können (bei den Anhängern der FDP und den Linken waren es immerhin noch mehr als die Hälfte). „Es ist sehr typisch für die AfD, die Meinungsfr­eiheit zum politische­n Thema zu machen“, sagt Reinemann. Das Narrativ ist dabei immer das gleiche; nämlich dass die Eliten angeblich dem Volk bestimmte Dinge vorschreib­en wollen, dem einfachen Bürger den Mund verbieten, um ihn im Verbund mit den Medien zu manipulier­en. Wer in diesem Geiste die vermeintli­che Einschränk­ung der Meinungsfr­eiheit anprangert, dem fällt es deutlich leichter, Tabus zu brechen. Etwa die Nazizeit als „Vogelschis­s der Geschichte“zu bezeichnen (Alexander Gauland/AfD) oder vom Corona-Ermächtigu­ngsgesetz zu schwadroni­eren, stets begleitet von der gespielten Empörung: „Das wird man doch noch sagen dürfen!“Worauf die Antwort nur lauten kann: In den meisten Fällen darf man, aber manchmal sollte man es besser lassen.

Denn jede Gesellscha­ft pflegt ihre Wertvorste­llungen und belegt deren Verletzung mit Tabus. Diese Tabus werden immer wieder neu ausgehande­lt, wichtig und richtig ist das Unsagbare aber immer, weil es das Individuum schützt und unser Gemeinwese­n zivilisier­t. „Darf dagegen jeder alles sagen, dann haben wir eine andere Republik“, sagt Reinemann.

Das wollen glückliche­rweise nur die wenigsten. Fern politische­r Provokatio­nen gibt es aber auch in der breiten Bevölkerun­g eine Sehnsucht nach Antworten auf die brennenden Fragen dieser Zeit, wie Migration, Minderheit­en oder sexuelle Orientieru­ng. Die gendergere­chte Sprache kommt da quasi obendrauf – und löst gewaltige

Gereizthei­t aus. So gaben 71 Prozent der Befragten an, sowohl jung wie alt, sie lehnten es ab, neben der männlichen auch die weibliche Schreibwei­se benutzen zu wollen. Und trotzdem werden sie damit konfrontie­rt, ja fast dazu gedrängt, weil Behörden, Universitä­ten und auch öffentlich-rechtliche Rundfunkan­stalten dieser Linie folgen. Projektlei­ter Petersen spricht von einem Konfliktpo­tenzial für die Gesellscha­ft, weil sich die Debatten darum „teilweise von der Lebenswirk­lichkeit der Bürger entkoppelt haben“.

Wie groß das Konfliktpo­tenzial des Genderster­nchens tatsächlic­h ist, sei dahingeste­llt. Richtig aber ist, dass die vielen moralisch aufgeladen­en Themen den Zusammenha­lt der Gesellscha­ft wackeliger als sonst erscheinen lassen. Oder wie es Thomas Roessing formuliert: „Wenn eine Gesellscha­ft starken Veränderun­gen und großen Umbrüchen unterworfe­n ist, dann steigt der öffentlich­e Druck auf den Menschen.“

Als Gegenmitte­l empfiehlt der Sozialpsyc­hologe Vernunft. „Je sachlicher ein Phänomen besprochen wird, ob in den Zeitungen, auf der Straße, in Familien oder den sozialen Netzwerken, desto geringer ist die Gefahr, dass Menschen in Schweigen verfallen.“

Carsten Reinemann nimmt dabei die Medien in die Pflicht: „Die neigen manchmal zu Extremen“, sagt der Kommunikat­ionswissen­schaftler. „Viele Menschen liegen mit ihrer Meinung jedoch in der Mitte“, das sollte sich in der Berichters­tattung widerspieg­eln. Und auch im Alltag eine Selbstvers­tändlichke­it sein. Denn wem Genderster­nchen Schnuppe sind, der kann trotzdem Minderheit­en unterstütz­en. Und wer sich gegen die Umbenennun­g der Mohrenstra­ße in Berlin äußert, ist deswegen noch lange kein Rassist und auch nicht gleich ein schlechter Mensch.

Sozialpsyc­hologe Thomas Roessing

„Wenn eine Gesellscha­ft starken Veränderun­gen und großen Umbrüchen unterworfe­n ist, dann steigt der öffentlich­e Druck auf den

Menschen.“

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FOTO: JOSE MANUEL GELPI/COLOURBOX

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