Rom oder Rente
Joachim Löw ist Experte für K.o.-Spiele – In London möchte er sich noch nicht verabschieden
- Man trifft nicht immer ins Ziel bei bestimmten Aussagen aus der Abteilung Glaskugel, speziell nicht während eines Turniers, das stets so viel Unerwartetes, so viele Überraschungen bringt. Und doch kann man Joachim Löw für diesen einen Satz, ausgesprochen im guten Gefühl des 4:2-Erfolges gegen Portugal, zumindest temporär den Titel eines Wahrsagers verleihen: „Diejenigen Mannschaften, die die ersten zwei Spiele perfekt spielen und bei denen alles rund läuft, haben in den seltensten Fällen das Turnier gewinnen können“, meinte der Bundestrainer und hatte dabei wohl die Italiener und die Niederländer im Blick.
Bitteschön, die Bestandsaufnahme zehn Tage später: Die so hoch gelobten Italiener mühten sich mit Ach und Krach gegen Außenseiter Österreich erst in der Verlängerung (2:1) ins Viertelfinale. Und die Holländer, die durch ihre Vorrundengruppe mit drei Siegen und 8:2-Toren (kein Team traf öfter) rauschten, prallten nun an den Tschechen ab – 0:2, das jähe Aus. Betrachtet man gruppenübergreifend die Punkt- und Torausbeute, schnitten acht der 24 EM-Teilnehmer besser ab als das DFB-Team. Neben Italien und Holland verzeichnete auch Belgien keinen Punktverlust, ungeschlagen blieben überdies Schweden, Frankreich und England. Schlägt jedoch nun, mit Beginn der maximal vier Spiele dauernden, intensiven K.o.-Phase die Stunde derjenigen, die in der Vorrunde schwächelten? Nach dem Motto: Frühform gewinnt Gruppenphase, Spätform den Titel?
Löw hat schon alles erlebt in seinen 15 Amtsjahren als Bundestrainer, dazu kommt die Phase als Jürgen Klinsmanns Assistent nach der EM 2004 bis inklusive der Sommermärchen-WM 2006. Löw ist der weltweit dienstälteste Nationaltrainer, verantwortete acht Turniere als Chefcoach, inklusive des größten Triumphs bei der WM 2014 in Brasilien und des siegreichen Confed-Cups 2017. Keiner hat mehr Erfahrung. Bereits 16 K.o.-Spiele hat Löw auf dem Buckel. Die beeindruckende Bilanz: Zwölf Erfolge, vier Pleiten. Der 61-Jährige liebt die alles entscheidenden Duelle bei großen Turnieren: „Bei Alles-oder-nichtsSpielen kann man den Rechenschieber zu Hause lassen. Dann ist alles, was vorher war, nicht mehr aktuell“, sagte er vor der Abreise nach London bei MagentaTV.
Und nun, bei dieser EM, seinem letzten Turnier vor dem Rücktritt? Im März hatte Löw, nachdem er ab 2018 mehrere Stürme des Widerstands und heftiger Kritik aushalten musste, bekannt gegeben, trotz eines bis zur Winter-WM 2022 gültigen Vertrages im Anschluss an die laufende Endrunde zurücktreten zu wollen. Ab sofort gilt: Jedes Match könnte das endgültig letzte von Löw sein. Ab September, wenn die WMQualifikation fortgesetzt wird, übernimmt sein ehemaliger Assistent Hansi Flick, in den letzten eineinhalb Jahren mit sieben KlubTiteln dekorierter Bayern-Coach. „Jetzt geht es um alles oder nichts“, weiß Löw und verkündete angesichts der Abwehrschwächen seiner Mannschaft: „Jetzt gibt es kein Pardon mehr.“
Bei den vergangen sieben Spielen einer EM oder WM geriet die DFBAuswahl in Rückstand. Womöglich sorgt die veränderte Startformation für mehr Stabilität. Der zuletzt angeschlagene Ilkay Gündogan muss wohl Leon Goretzka ebenso weichen
Joachim Löw wie der unglückliche Leroy Sané dem wieder komplett fitten Antreiber Thomas Müller. Oder überrascht Löw mit einem besonderen TaktikKniff, einer unerwarteten Personalie (etwa mit Jamal Musiala von Beginn an)? Hätte Charme. Geht es schief, müsste es Gentleman Löw auf seine Melone nehmen.
Seine womöglich letzte DFBDienstreise führte Löw aus dem EMQuartier im hochsommerlichen Herzogenaurach per Bus zum Flughafen Nürnberg, von dort waren es knapp zwei Stunden ins kühle und regnerische London. Dass keine deutschen Fans den DFB-Tross nach England begleiten können sieht der Bundestrainer nicht zwingend als Nachteil. „Logischerweise, wenn du 40 000 Fans im Rücken hast, wird das als Vorteil gesehen. Es kann aber auch, wenn die Engländer nicht so ins Spiel kommen, ein Nachteil und eine Last für sie sein. Es liegt an uns, dafür zu sorgen, dass Stille im Stadion ist“
Löw selbst ist noch nicht bereit für die (Alters-)Ruhe. Für ihn heißt es: Rom oder Rente – denn: Übersteht man die Hürde Wembley, träfe die Nationalelf im Viertelfinale am Freitag in Rom (21 Uhr) auf Schweden, den 18. der FIFA-Weltrangliste, oder die Ukraine (24.). Klingt verlockend – und machbar.
„Jetzt geht es um alles oder nichts. Jetzt gibt es kein Pardon mehr.“