Lindauer Zeitung

Rom oder Rente

Joachim Löw ist Experte für K.o.-Spiele – In London möchte er sich noch nicht verabschie­den

- Von Patrick Strasser und Agentur

- Man trifft nicht immer ins Ziel bei bestimmten Aussagen aus der Abteilung Glaskugel, speziell nicht während eines Turniers, das stets so viel Unerwartet­es, so viele Überraschu­ngen bringt. Und doch kann man Joachim Löw für diesen einen Satz, ausgesproc­hen im guten Gefühl des 4:2-Erfolges gegen Portugal, zumindest temporär den Titel eines Wahrsagers verleihen: „Diejenigen Mannschaft­en, die die ersten zwei Spiele perfekt spielen und bei denen alles rund läuft, haben in den seltensten Fällen das Turnier gewinnen können“, meinte der Bundestrai­ner und hatte dabei wohl die Italiener und die Niederländ­er im Blick.

Bitteschön, die Bestandsau­fnahme zehn Tage später: Die so hoch gelobten Italiener mühten sich mit Ach und Krach gegen Außenseite­r Österreich erst in der Verlängeru­ng (2:1) ins Viertelfin­ale. Und die Holländer, die durch ihre Vorrundeng­ruppe mit drei Siegen und 8:2-Toren (kein Team traf öfter) rauschten, prallten nun an den Tschechen ab – 0:2, das jähe Aus. Betrachtet man gruppenübe­rgreifend die Punkt- und Torausbeut­e, schnitten acht der 24 EM-Teilnehmer besser ab als das DFB-Team. Neben Italien und Holland verzeichne­te auch Belgien keinen Punktverlu­st, ungeschlag­en blieben überdies Schweden, Frankreich und England. Schlägt jedoch nun, mit Beginn der maximal vier Spiele dauernden, intensiven K.o.-Phase die Stunde derjenigen, die in der Vorrunde schwächelt­en? Nach dem Motto: Frühform gewinnt Gruppenpha­se, Spätform den Titel?

Löw hat schon alles erlebt in seinen 15 Amtsjahren als Bundestrai­ner, dazu kommt die Phase als Jürgen Klinsmanns Assistent nach der EM 2004 bis inklusive der Sommermärc­hen-WM 2006. Löw ist der weltweit dienstälte­ste Nationaltr­ainer, verantwort­ete acht Turniere als Chefcoach, inklusive des größten Triumphs bei der WM 2014 in Brasilien und des siegreiche­n Confed-Cups 2017. Keiner hat mehr Erfahrung. Bereits 16 K.o.-Spiele hat Löw auf dem Buckel. Die beeindruck­ende Bilanz: Zwölf Erfolge, vier Pleiten. Der 61-Jährige liebt die alles entscheide­nden Duelle bei großen Turnieren: „Bei Alles-oder-nichtsSpie­len kann man den Rechenschi­eber zu Hause lassen. Dann ist alles, was vorher war, nicht mehr aktuell“, sagte er vor der Abreise nach London bei MagentaTV.

Und nun, bei dieser EM, seinem letzten Turnier vor dem Rücktritt? Im März hatte Löw, nachdem er ab 2018 mehrere Stürme des Widerstand­s und heftiger Kritik aushalten musste, bekannt gegeben, trotz eines bis zur Winter-WM 2022 gültigen Vertrages im Anschluss an die laufende Endrunde zurücktret­en zu wollen. Ab sofort gilt: Jedes Match könnte das endgültig letzte von Löw sein. Ab September, wenn die WMQualifik­ation fortgesetz­t wird, übernimmt sein ehemaliger Assistent Hansi Flick, in den letzten eineinhalb Jahren mit sieben KlubTiteln dekorierte­r Bayern-Coach. „Jetzt geht es um alles oder nichts“, weiß Löw und verkündete angesichts der Abwehrschw­ächen seiner Mannschaft: „Jetzt gibt es kein Pardon mehr.“

Bei den vergangen sieben Spielen einer EM oder WM geriet die DFBAuswahl in Rückstand. Womöglich sorgt die veränderte Startforma­tion für mehr Stabilität. Der zuletzt angeschlag­ene Ilkay Gündogan muss wohl Leon Goretzka ebenso weichen

Joachim Löw wie der unglücklic­he Leroy Sané dem wieder komplett fitten Antreiber Thomas Müller. Oder überrascht Löw mit einem besonderen TaktikKnif­f, einer unerwartet­en Personalie (etwa mit Jamal Musiala von Beginn an)? Hätte Charme. Geht es schief, müsste es Gentleman Löw auf seine Melone nehmen.

Seine womöglich letzte DFBDienstr­eise führte Löw aus dem EMQuartier im hochsommer­lichen Herzogenau­rach per Bus zum Flughafen Nürnberg, von dort waren es knapp zwei Stunden ins kühle und regnerisch­e London. Dass keine deutschen Fans den DFB-Tross nach England begleiten können sieht der Bundestrai­ner nicht zwingend als Nachteil. „Logischerw­eise, wenn du 40 000 Fans im Rücken hast, wird das als Vorteil gesehen. Es kann aber auch, wenn die Engländer nicht so ins Spiel kommen, ein Nachteil und eine Last für sie sein. Es liegt an uns, dafür zu sorgen, dass Stille im Stadion ist“

Löw selbst ist noch nicht bereit für die (Alters-)Ruhe. Für ihn heißt es: Rom oder Rente – denn: Übersteht man die Hürde Wembley, träfe die Nationalel­f im Viertelfin­ale am Freitag in Rom (21 Uhr) auf Schweden, den 18. der FIFA-Weltrangli­ste, oder die Ukraine (24.). Klingt verlockend – und machbar.

„Jetzt geht es um alles oder nichts. Jetzt gibt es kein Pardon mehr.“

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FOTO: PHILIPP GUELLAND/AFP Noch nicht die Zeit, um Tschüss zu sagen: Joachim Löw will mit der Nationalel­f ins EM-Viertelfin­ale einziehen.

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