Bär statt Militär
Der Sensortechnik-Spezialist Hensoldt entwickelt ein System, das in der Arktis Menschen vor wilden Tieren schützen soll – Die Technologie könnte auch bei Wölfen oder Luchsen in Europa funktionieren
Ein
Eisbär auf einer Treibeisscholle:
10 000 Touristen kommen im
Jahr in die „Eisbären-Hauptstadt der Welt“in der kanadischen Provinz Manitoba, um die Tiere zu sehen.
- Die Bewohner des kleinen Örtchens Churchill im Norden von Kanada an der Hudson Bay schließen für gewöhnlich ihre Autos und Haustüren nicht ab. Und zwar weil die Häuser und Fahrzeuge Passanten Schutz vor umherstreunenden Eisbären geben. Einer Gefahr, die immer akuter wird. Wegen der Erderwärmung friert das Binnenmeer im Herbst später zu und taut im Frühjahr zeitiger auf. Dadurch verlieren die dort lebenden Raubtiere den Zugang zur ihrer Hauptnahrungsquelle, den Ringelund Bartrobben, die sie für gewöhnlich auf dem Eis jagen. Die Eisbären halten sich länger an Land auf, sind hungrig und kommen näher an die Dörfer. Für die Kanadier, die jenseits der legendären „Northern Frontier“– der Grenze zur arktischen Wildnis – leben, ist der Eisbär eine gefährliche Bedrohung.
Eine Lösung für den Konflikt zwischen Menschen und Tier bietet der Rüstungskonzern Hensoldt mit Sitz in Taufkirchen bei München und Werken in Ulm, Oberkochen und Immenstaad. Das Unternehmen ist Teil eines Pilotprojekts der gemeinnützigen Organisation Polar Bears International, die in Churchill, der „Eisbären-Hauptstadt der Welt“, seit mehreren Jahren an dem Pilotprojekt „Polar Bear Warning Radar“(PoWR) arbeitet – also an einem EisbärenFrühwarnsystem.
„Diese Technologie gibt den Gemeindemitgliedern die Werkzeuge an die Hand, die sie brauchen, um geschützt zu bleiben, sodass wir sowohl den Eisbären als auch den Menschen helfen können“, sagt Sarah Sterzl, die bei Hensoldt für das Projekt zuständig ist. Das Unternehmen, das unter anderem auch am künftigen deutsch-französischen Luftkampfsystem FCAS mitarbeitet,
Ein Mast mit einem Radar: Hier auf einem Flugplatz eines Segelfliegerclubs in Großbritannien, wo Hensoldt einen Teststandort hat. nutzt dafür Techniken, die normalerweise in militärischen Anwendungen zur Drohnenabwehr oder an Flughäfen zur Überwachung des Luftraums angewandt werden.
Nun soll die Technologie auch helfen, um Menschen vor Eisbären zu warnen. Bei dem Pilotprojekt, das von Oktober an läuft, werden in dem kanadischen Dorf zwei Masten mit jeweils einem Radar aufgestellt, der die Umgebung in 360 Grad abscannt. Der Radar sendet dabei Signale, die die Eisbären reflektieren. Dann werden sie vom Radar wieder aufgenommen und ausgewertet. Außerdem ist eine Wärmebildkamera an dem System angebracht, die die Tiere auch bei Nacht auf vier Kilometer Entfernung erkennt und die Eisbären von anderen Tieren oder Menschen unterscheidet. Das ist wegen des Temperaturunterschieds zwischen Eisbär und Umgebung möglich.
Ist ein Eisbär in der Nähe, wird eine SMS oder E-Mail auf das Handy der Sicherheitskräfte in Churchill geschickt. „Ihnen bleiben somit bis zu zwei Stunden mehr Zeit, um Maßnahmen zu ergreifen“, sagt eine Hensoldt-Sprecherin. Somit wäre das Hensoldt-System ein Fortschritt im Vergleich zur Methode, die sonst angewandt wird. Sonst suchen nämlich Sicherheitskräfte den Ort und die Umgebung nach sich nähernden Bären ab. Die Bedingungen sind wegen Nebel, Dunkelheit und Schneestürmen aber oft erschwert. Angewiesen sind die Ranger dabei auf Hinweise von Bewohnern. Laut kanadischen Medien erhält eine 24-Stunden-Hotline jedes Jahr bis zu 300 Hinweise zu potenziellen Eisbärensichtungen. Das Problem: Die Methode funktioniert nicht besonders gut. In den vergangenen Jahren kam es immer wieder zu Vorfällen, bei denen Menschen starben. In der Hudson Bay, etwas nördlich von Churchill, töteten vor vier Jahren kurz hintereinander Eisbären zwei Menschen. Im Jahr 2013 wurde eine junge Frau auf dem Nachhauseweg von Eisbären attackiert, sie überlebte schwer verletzt.
Dass weiterentwickelte Militärtechnik im Tier- und Menschenschutz eingesetzt wird, ist nichts Neues. „Der Konflikt zwischen Mensch und Tier wird sich wegen des Klimawandels in den nächsten 100 Jahren verschärfen, und dann können solche Systeme helfen“, sagt Eisenbärenforscherin Sybille Klenzendorf von der Naturschutzorganisation World Wildlife Fund (WWF), die das PoWR-Projekt gut kennt und auch mit Polar Bears International zusammenarbeitet. Sie erzählt von ähnliche Projekten, an dem WWF arbeitet. So wird zum Beispiel in Afrika in einem Smartpark mithilfe von Sensoren vor Nashörnern oder Elefanten gewarnt. Auch Hensoldt ist an einem Projekt in Südafrika beteiligt, bei dem Nashörner geschützt werden. Mit Radaren und optischen Überwachungssystemen könnten Tiere dort vor Wilderei geschützt werden.
Ein ähnliches Beispiel aus der Schweiz: Die Nichtregierungsorganisation Resolve will dort Bestände von Wölfen, Luchsen oder Bären schützen. Dazu werden Handy-große Kamerasysteme an Bäumen angebracht. Die senden eine Nachricht an den nächsten Farmer oder Parkwächter, wenn sie ein Tier entdecken. Mit Künstlicher Intelligenz kann ein 3-D-Bild des Tieres erstellt werden, das es von anderen Tieren oder Menschen unterscheidet. Auch in Deutschland ist das System zumindest abgewandelt angekommen. In Brandenburg werden Systeme getestet, bei denen elektrische Zäune Schafherden vor Wölfen schützen sollen, erklärt WWF-Expertin Klenzendorf. „Das funktioniert wie bei einer Tür im Supermarkt, die aufgeht, wenn Menschen hinkommen, nur mit einem größeren Radius“, sagt die Wissenschaftlerin. Das heißt, das Gatter öffnet sich auch, wenn die Schafe noch einige Meter entfernt sind. Man sei noch dabei, das Ganze so zu entwickeln, dass die Technik Wölfe von anderen Lebewesen unterscheiden kann.
Wenn das Hensoldt-System in Kanada funktioniert, profitieren nicht nur die Menschen, sondern auch die Eisbären. Denn umso weniger Angriffe es auf Menschen gibt, desto geringer ist die Gefahr, dass die Ranger die Tiere erschießen müssen. Wie wichtig das Projekt ist, zeigt die Tatsache, dass die Eisbärpopulation wegen des immer schneller schmelzenden Eises der Arktis sowieso schon bedroht ist. Laut Polar Bears International könnten die Bestände nämlich bis 2100 fast vollständig aus der Arktis verschwinden, weil sie dort nicht mehr genug Nahrung finden.
Und wenn Hensoldt erfolgreich ist, können die Bürger von Churchill auch wieder ihre Autos abschließen.
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