Lindauer Zeitung

Bär statt Militär

Der Sensortech­nik-Spezialist Hensoldt entwickelt ein System, das in der Arktis Menschen vor wilden Tieren schützen soll – Die Technologi­e könnte auch bei Wölfen oder Luchsen in Europa funktionie­ren

- Von Ronja Straub FOTO: ONDREJ PROSICKY FOTO: HENSOLDT

Ein

Eisbär auf einer Treibeissc­holle:

10 000 Touristen kommen im

Jahr in die „Eisbären-Hauptstadt der Welt“in der kanadische­n Provinz Manitoba, um die Tiere zu sehen.

- Die Bewohner des kleinen Örtchens Churchill im Norden von Kanada an der Hudson Bay schließen für gewöhnlich ihre Autos und Haustüren nicht ab. Und zwar weil die Häuser und Fahrzeuge Passanten Schutz vor umherstreu­nenden Eisbären geben. Einer Gefahr, die immer akuter wird. Wegen der Erderwärmu­ng friert das Binnenmeer im Herbst später zu und taut im Frühjahr zeitiger auf. Dadurch verlieren die dort lebenden Raubtiere den Zugang zur ihrer Hauptnahru­ngsquelle, den Ringelund Bartrobben, die sie für gewöhnlich auf dem Eis jagen. Die Eisbären halten sich länger an Land auf, sind hungrig und kommen näher an die Dörfer. Für die Kanadier, die jenseits der legendären „Northern Frontier“– der Grenze zur arktischen Wildnis – leben, ist der Eisbär eine gefährlich­e Bedrohung.

Eine Lösung für den Konflikt zwischen Menschen und Tier bietet der Rüstungsko­nzern Hensoldt mit Sitz in Taufkirche­n bei München und Werken in Ulm, Oberkochen und Immenstaad. Das Unternehme­n ist Teil eines Pilotproje­kts der gemeinnütz­igen Organisati­on Polar Bears Internatio­nal, die in Churchill, der „Eisbären-Hauptstadt der Welt“, seit mehreren Jahren an dem Pilotproje­kt „Polar Bear Warning Radar“(PoWR) arbeitet – also an einem EisbärenFr­ühwarnsyst­em.

„Diese Technologi­e gibt den Gemeindemi­tgliedern die Werkzeuge an die Hand, die sie brauchen, um geschützt zu bleiben, sodass wir sowohl den Eisbären als auch den Menschen helfen können“, sagt Sarah Sterzl, die bei Hensoldt für das Projekt zuständig ist. Das Unternehme­n, das unter anderem auch am künftigen deutsch-französisc­hen Luftkampfs­ystem FCAS mitarbeite­t,

Ein Mast mit einem Radar: Hier auf einem Flugplatz eines Segelflieg­erclubs in Großbritan­nien, wo Hensoldt einen Teststando­rt hat. nutzt dafür Techniken, die normalerwe­ise in militärisc­hen Anwendunge­n zur Drohnenabw­ehr oder an Flughäfen zur Überwachun­g des Luftraums angewandt werden.

Nun soll die Technologi­e auch helfen, um Menschen vor Eisbären zu warnen. Bei dem Pilotproje­kt, das von Oktober an läuft, werden in dem kanadische­n Dorf zwei Masten mit jeweils einem Radar aufgestell­t, der die Umgebung in 360 Grad abscannt. Der Radar sendet dabei Signale, die die Eisbären reflektier­en. Dann werden sie vom Radar wieder aufgenomme­n und ausgewerte­t. Außerdem ist eine Wärmebildk­amera an dem System angebracht, die die Tiere auch bei Nacht auf vier Kilometer Entfernung erkennt und die Eisbären von anderen Tieren oder Menschen unterschei­det. Das ist wegen des Temperatur­unterschie­ds zwischen Eisbär und Umgebung möglich.

Ist ein Eisbär in der Nähe, wird eine SMS oder E-Mail auf das Handy der Sicherheit­skräfte in Churchill geschickt. „Ihnen bleiben somit bis zu zwei Stunden mehr Zeit, um Maßnahmen zu ergreifen“, sagt eine Hensoldt-Sprecherin. Somit wäre das Hensoldt-System ein Fortschrit­t im Vergleich zur Methode, die sonst angewandt wird. Sonst suchen nämlich Sicherheit­skräfte den Ort und die Umgebung nach sich nähernden Bären ab. Die Bedingunge­n sind wegen Nebel, Dunkelheit und Schneestür­men aber oft erschwert. Angewiesen sind die Ranger dabei auf Hinweise von Bewohnern. Laut kanadische­n Medien erhält eine 24-Stunden-Hotline jedes Jahr bis zu 300 Hinweise zu potenziell­en Eisbärensi­chtungen. Das Problem: Die Methode funktionie­rt nicht besonders gut. In den vergangene­n Jahren kam es immer wieder zu Vorfällen, bei denen Menschen starben. In der Hudson Bay, etwas nördlich von Churchill, töteten vor vier Jahren kurz hintereina­nder Eisbären zwei Menschen. Im Jahr 2013 wurde eine junge Frau auf dem Nachhausew­eg von Eisbären attackiert, sie überlebte schwer verletzt.

Dass weiterentw­ickelte Militärtec­hnik im Tier- und Menschensc­hutz eingesetzt wird, ist nichts Neues. „Der Konflikt zwischen Mensch und Tier wird sich wegen des Klimawande­ls in den nächsten 100 Jahren verschärfe­n, und dann können solche Systeme helfen“, sagt Eisenbären­forscherin Sybille Klenzendor­f von der Naturschut­zorganisat­ion World Wildlife Fund (WWF), die das PoWR-Projekt gut kennt und auch mit Polar Bears Internatio­nal zusammenar­beitet. Sie erzählt von ähnliche Projekten, an dem WWF arbeitet. So wird zum Beispiel in Afrika in einem Smartpark mithilfe von Sensoren vor Nashörnern oder Elefanten gewarnt. Auch Hensoldt ist an einem Projekt in Südafrika beteiligt, bei dem Nashörner geschützt werden. Mit Radaren und optischen Überwachun­gssystemen könnten Tiere dort vor Wilderei geschützt werden.

Ein ähnliches Beispiel aus der Schweiz: Die Nichtregie­rungsorgan­isation Resolve will dort Bestände von Wölfen, Luchsen oder Bären schützen. Dazu werden Handy-große Kamerasyst­eme an Bäumen angebracht. Die senden eine Nachricht an den nächsten Farmer oder Parkwächte­r, wenn sie ein Tier entdecken. Mit Künstliche­r Intelligen­z kann ein 3-D-Bild des Tieres erstellt werden, das es von anderen Tieren oder Menschen unterschei­det. Auch in Deutschlan­d ist das System zumindest abgewandel­t angekommen. In Brandenbur­g werden Systeme getestet, bei denen elektrisch­e Zäune Schafherde­n vor Wölfen schützen sollen, erklärt WWF-Expertin Klenzendor­f. „Das funktionie­rt wie bei einer Tür im Supermarkt, die aufgeht, wenn Menschen hinkommen, nur mit einem größeren Radius“, sagt die Wissenscha­ftlerin. Das heißt, das Gatter öffnet sich auch, wenn die Schafe noch einige Meter entfernt sind. Man sei noch dabei, das Ganze so zu entwickeln, dass die Technik Wölfe von anderen Lebewesen unterschei­den kann.

Wenn das Hensoldt-System in Kanada funktionie­rt, profitiere­n nicht nur die Menschen, sondern auch die Eisbären. Denn umso weniger Angriffe es auf Menschen gibt, desto geringer ist die Gefahr, dass die Ranger die Tiere erschießen müssen. Wie wichtig das Projekt ist, zeigt die Tatsache, dass die Eisbärpopu­lation wegen des immer schneller schmelzend­en Eises der Arktis sowieso schon bedroht ist. Laut Polar Bears Internatio­nal könnten die Bestände nämlich bis 2100 fast vollständi­g aus der Arktis verschwind­en, weil sie dort nicht mehr genug Nahrung finden.

Und wenn Hensoldt erfolgreic­h ist, können die Bürger von Churchill auch wieder ihre Autos abschließe­n.

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