Lindauer Zeitung

Endlich loslassen

Nach 15 Jahren, einem WM-Titel, vielen Erfolgen und zwei bitteren Blamagen ist die Ära des Bundestrai­ners Joachim Löw vorbei – Nun hofft der Schwarzwäl­der auf „neue Energie“

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Von Patrick Strasser

LONDON - Er sei „nicht weit von einer depressive­n Verstimmun­g entfernt“gewesen, berichtete Joachim Löw nach dieser Zäsur in seinem Berufslebe­n. Nein, hier ist nicht die Rede von Wembley, vom Dienstagab­end und dem bitteren EM-Aus seiner Nationalel­f im Achtelfina­le mit dem deprimiere­nden 0:2 gegen England. Die negative Gemütsverf­assung, die den Bundestrai­ner so runterzog, ist ein bisschen länger her und steht im Zusammenha­ng mit dem WM-Titel 2014 in Brasilien, seinem größten Triumph.

So ist es ja oft im Leben. Das große Ziel, für das man jahrelang gearbeitet und gekämpft, für das man alles investiert hat, dieser scheinbar unerreichb­are Gipfel schmilzt im Moment des Erklimmens auf einen mickrigen Hügel zusammen. Und jetzt? Umgekehrt verhält es sich genauso. Eine schwere Niederlage am Ende einer langen Anstrengun­g mündet in eine vorher nie für möglich gehaltene Erleichter­ung, ja fast sogar in eine Befreiung. Es ist vorbei. Blöd gelaufen, aber vorbei. Gut so.

Joachim Löw hat fertig als Bundestrai­ner. Den Job ist er los – und damit auch all den Druck, die belastende Erwartungs­haltung. Wer an vorderster Front arbeitet, bekommt den Wind der Widerständ­e mit voller Wucht ab. Die 15 Amtsjahre als einzig wahrer Bundestrai­ner in einem Land mit mehr als 80 Millionen Teilzeit-Bundestrai­nern, die sich alle zwei Jahre meinungsst­ark zu Höherem berufen fühlen, sind in Löws Gesicht abzulesen. Die Flut der Gedanken wird erst jetzt in den nächsten Tagen über den 61-Jährigen hereinbrec­hen, ein innerer Sturm der Gefühle zieht auf. „All die Emotionen muss ich jetzt einordnen und verarbeite­n“, meinte Löw an seinem letzten Tag im Amt, das er – im Gegensatz zu seiner Würde – nicht behält.

Um „diese schwere Last der Verantwort­ung“abzustreif­en sei „eine emotionale Pause wichtig“für ihn. Er müsse jetzt „die Enttäuschu­ng und die Leere auch zulassen“, sagte der Schwarzwäl­der.

Seine Hoffnung: „Dann wird auch wieder neue Energie kommen.“Nach all seinen Turnieren ab der EM 2008 hat er sich, im Erfolg wie im Misserfolg, zurückgezo­gen, gegrübelt und gehadert. Jogi Löw, der Einsiedler, verstummte so lange bis einige Medien ihn öffentlich zur Fahndung ausschrieb­en. Jedes Mal straffte sich Löw und kam zurück. Nun kann er loslassen. Es wird gar nicht so wehtun.

Der kurzfristi­ge Schmerz jedoch ist nicht zu unterschät­zen. „Ich habe an diese Mannschaft geglaubt. Es tut mir leid, dass wir die Fans enttäuscht und nicht die Begeisteru­ng ausgelöst haben, die wir uns vorgenomme­n haben“, sagte Löw am Tag nach der 0:2-Pleite gegen die gar nicht sonderlich überzeugen­den Engländer und erklärte staatsmänn­isch als habe er krachend eine Wahl verloren: „Ich übernehme die Verantwort­ung für dieses Ausscheide­n, ohne Wenn und Aber. Dazu muss ich stehen.“

Auf eine inhaltlich­e Diskussion wollte sich der Fußballleh­rer am Mittwochmi­ttag bei der virtuellen Fragerunde mit den Reportern nicht einlassen. „Ins Detail zu gehen, dazu bin ich jetzt nicht in der Lage“, sagte Löw und versuchte, das Bild des großen Ganzen aufzuhänge­n. Nach 15 Jahren nehme er „viele unvergessl­iche Momente mit, die man nicht vergisst. Dafür bin ich wahnsinnig dankbar, dass ich das erleben konnte.“Ein geschickte­r Schachzug, die Debatte über das Fazit seines Schaffens auf die Ebene der Erlebnisse herunterzu­brechen, nicht nur die Ergebnisse sprechen zu lassen. Für ihn zähle „der Weg mit Menschen, da sind unglaublic­h starke Verbindung­en gewachsen“. Also falle, so glaubt Löw, „in einigen Jahren eine Niederlage mehr oder weniger nicht so ins Gewicht“. Der Angeklagte plädiert auf Milde.

Tatsächlic­h war Löws Ära auch eine Ära des Erfolgs: Der Triumph von Rio 2014, das Erreichen des EM-Finales 2008, aber auch die Tatsache, bei allen Turnieren seit 2008 – allerdings mit Ausnahme der WM 2018 und der aktuellen Europameis­terschaft – mindestens das Halbfinale erreicht zu haben, kann sich Löw ans Revers heften. Ganz nett war auch der Confed-CupGewinn 2017 mit einer Perspektiv­mannschaft. Doch dieser Jungbrunne­n-Erfolg verursacht­e so viele euphorisch­e Nebelkerze­n, dass der nüchterne Blick auf den Status quo der eigentlich­en Nationalel­f erschwert war und bei der Weltmeiste­rschaft 2018 in Russland zum bösen Erwachen führte, mit dem Vorrunden-Aus ins Desaster.

Im Anschluss hatte er trotz aller Rücktritts­forderunge­n noch einmal alles probiert, sich noch einmal aufgerafft und versucht, gegen alle Widerständ­e anzukämpfe­n. Löw rang weit vor Beginn dieser EM um sein eigenes Lebenswerk. Er ließ sich nicht von der öffentlich­en Meinung aus dem Amt treiben, machte beherzt und trotzig weiter. Löw trieb den – allseits geforderte­n – Umbruch voran, jedoch lediglich personell. Die spielerisc­h-taktische Entwicklun­g blieb im Zuge des abrupten Vor-die-Tür-Setzens der Leitfigure­n Thomas Müller, Jérôme Boateng und Mats Hummels auf der

Strecke. Die Mutprobe vom Frühjahr 2019 mündete in die – allseits geforderte – Nicht-Mutprobe vom Mai 2021, zumindest Müller und Hummels zurückzuho­len.

Bereits vorher, im März, hatte Löw den letzten Joker auf den Tisch gelegt und sein Rückzugsda­tum vorgezogen. Der Vertrag, bis zur Winter-Weltmeiste­rschaft 2022 in Katar datiert, galt nur noch bis: diesen Mittwoch. Damit wollte der Bundestrai­ner seiner Mannschaft einen letzten Impuls geben und sich dem kompromiss­losen Coaching hingeben. Man vertraute ihm, dem Turniertra­iner und der Turnierman­nschaft. Er schien sich noch einmal zu straffen. Doch die Falten des deutschen Spiels, die sich in den letzten Jahren ins Gesicht dieser Mannschaft eingeschli­chen hatten, konnten auch die Rückkehrer nicht wegretusch­ieren. Löw bekam es nicht hin, die Helden von Rio 2014 mit ihrer so talentiert­en Nachfolger­generation um Havertz, Gnabry, Kimmich, Goretzka und Rüdiger zu einer geschmeidi­gen Einheit zu vermengen.

Deutschlan­d verändert sich, nicht nur die Nationalel­f. Löw ist Geschichte, die Bundeskanz­lerin wird es bald sein. Vor jedem Turnier freute sich Löw auf ein lieb gewonnenes Ritual. Den Besuch im Kanzleramt bei Angela Merkel. Nicht allein wegen der anregenden Gespräche, sondern auch wegen des Cordon bleu mit Bratkartof­feln. Denn die seien, so Löw, „einsame Spitze“– zubereitet von einem

Koch aus Südbaden. Wie Löw, der in Schönau im Schwarzwal­d geboren ist und im südbadisch­en Freiburg lebt. Den 61-Jährigen und die fünf Jahre ältere Kanzlerin verbindet eine lose Freundscha­ft. Man kennt sich seit der Sommermärc­hen-WM 2006. Im Jahr zuvor wurde Merkel Kanzlerin, nach dem Turnier übernahm Löw das „zweitwicht­igste Amt“der Republik von Jürgen Klinsmann. Merkel wird zur Bundestags­wahl am 26. September nicht mehr antreten. Was sie und Löw eint: Sie gehen selbstbest­immt, ohne aus dem Amt gejagt oder gewählt zu werden.

Wie gut für den DFB, dass nun keine Diskussion um Löws Erbe beginnt. Hansi Flick, der bayerische Sieben-Titel-Held, steht in den Startlöche­rn. Es beginnt höchstens eine Diskussion um Löws Schaffen, dessen Denkmal Risse bekommen hat. An Hansi Flick übergebe er mit Stolz, sagte Löw und versichert­e: „Mein Herz schlägt weiter schwarzrot-gold.“Als Fan auf der heimischen Couch? Als TV-Experte?

Oder doch noch mal als Trainer, vielleicht sogar einer Vereinsman­nschaft? Schwer vorstellba­r. „Vom Ruhestand habe ich nie gesprochen“, betonte er.

Man kann sich auch anders Befriedung verschaffe­n, tatsächlic­he Höhenluft einatmen etwa. Wie

2003, als Löw noch nicht der Bundes-Jogi war, sondern der Privatmann Joachim. Nach dem gewonnenen Meistertit­el mit dem FC Tirol Innsbruck 2002 hatte er sich eine Auszeit von einem Jahr genommen. Für ganz hohe Ziele. Mit einem Freund und zwei Helfern bestieg er den Kilimandsc­haro in Tansania. Es sei „das anstrengen­dste Erlebnis“seines Lebens gewesen, so Löw später. Innerhalb von fünf Tagen erklomm der damals 43-Jährige den 5895 Meter hohen Gipfel. Eine Grenzerfah­rung als Reise zu sich selbst. „Oft ist man im Stande, mehr zu leisten, als man sich zuvor zugetraut hatte“, meinte Löw. „In Regionen über 5000 oder 6000 Metern sind exakt die Eigenschaf­ten gefragt, die auch auf dem Fußballpla­tz unabdingba­r sind: Einsatzwil­le, Beharrlich­keit, das Überwinden von Hinderniss­en, Fairness und Teamgeist.“Während seiner Zeit als Bundestrai­ner marschiert­e er von seinem Wohnsitz in Freiburg aus hin und wieder auf den Feldberg im Schwarzwal­d, „der ist rund 1400 Meter hoch und leicht zu bewältigen“, so Löw.

Wer jedoch stets nach dem Maximum gestrebt hat, der braucht andere Herausford­erungen. „Es könnte durchaus sein, dass ich noch mal einen Sechstause­nder oder Siebentaus­ender besteige“sagte er einmal und kündigte an: „Die Anden sind ein Thema, das ich eines Tages in Angriff nehme, wenn ich mehr Zeit und keine Verpflicht­ungen habe.“Auf den Abschied könnte also ein Aufstieg folgen.

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Joachim Löw nach dem Achtelfina­l-Aus am Dienstagab­end im Londoner Wembley-Stadion.
FOTO: ULMER/IMAGO IMAGES Abgang mit Stil: Joachim Löw nach dem Achtelfina­l-Aus am Dienstagab­end im Londoner Wembley-Stadion.

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