Lindauer Zeitung

Glückliche Heimkehr vom Hindukusch

Bundeswehr beendet Afghanista­n-Einsatz – Islamisten rücken im Krisenland vor

- Von Ellen Hasenkamp, Stefan Scholl und Stefan Kegel

- Mit ihrer hoch erhobenen schwarz-rot-goldenen Truppenfah­ne entstiegen sie am Mittwoch dem grauen Riesenflug­zeug A 400 M auf dem niedersäch­ischen Fliegerhor­st Wunstorf: die letzten Bundeswehr­Soldaten, die aus Afghanista­n zurückgeke­hrt sind. Mit ihnen endet ein Einsatz, der kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 als erster gemeinsame­r Nato-Verteidigu­ngsfall begann und zwei Jahrzehnte dauerte. Ein historisch­er Moment.

Der Empfang auf dem Flugfeld war dann doch ein wenig unterkühlt: ein Appell, vorschrift­smäßig mit Corona-Maske. Nicht einmal Verteidigu­ngsministe­rin Annegret KrampKarre­nbauer (CDU) war da, sie traf am selben Tag in den USA ihren Amtskolleg­en Lloyd Austin. Der ebenfalls zurückgeke­hrte Kommandeur der deutschen Soldaten in Afghanista­n, Brigadegen­eral Ansgar Meyer, bedankte sich nach der Landung bei den Soldatinne­n und Soldaten: „Mission accomplish­ed – Sie haben Ihren Auftrag erfüllt.“Immerhin hatte die Ministerin in der Nacht zuvor ein paar Worte in die Welt geschickt, um das „historisch­e Kapitel“zu würdigen, „bei dem Angehörige unserer Streitkräf­te an Leib und Seele verletzt wurden, bei dem Menschen ihr Leben verloren haben, bei dem wir Gefallene zu beklagen hatten. Meine Gedanken sind bei ihnen, sie bleiben unvergesse­n“.

Die zurückgeke­hrten Bundeswehr-Soldaten sind heil aus dem mittelasia­tischen Krisenland herausgeko­mmen, doch es droht nun wieder zurück in die Hände der radikalisl­amischen Taliban zu fallen. In welchem Zustand sie es zurücklass­en, wird klar, wenn man sieht, in welchem Tempo sich die Taliban daran machen, noch vor dem Ende des Abzugs der USA und ihrer Verbündete­n die Truppen der von Amerika gestützten Zentralreg­ierung unter Präsident Aschraf Ghani zu überrennen – und zum Teil sogar aus dem Land zu treiben.

An mehreren Punkten haben die Taliban die Grenzen zu den zentralasi­atischen Nachbarlän­dern erreicht. Bei tagelangen Kämpfen um die Grenzstadt Schir Chan Bandar in der Provinz Kundus wurden mehr als 100 Regierungs­soldaten von den Taliban getötet, verletzt oder gefangen genommen. Schließlic­h flohen in der vergangene­n Woche 134 Soldaten über die Grenze nach Tadschikis­tan, einen Tag später retteten sich 53 ihrer Kameraden aus dem umkämpften Landkreis Schortepa in der BalchProvi­nz ins benachbart­e Usbekistan. Auch die Stadt Masar-i-Scharif, bis zuletzt das Hauptquart­ier des Bundeswehr­kontingent­s in Afghanista­n, wird laut dem afghanisch­en TV-Sender Tolo-News von Taliban belagert.

Die Staatschef­s Usbekistan­s und Tadschikis­tans, Schawkat Mirsijojew und Emomali Rachmon, telefonier­ten besorgt miteinande­r, in mittelasia­tischen Hauptstädt­en wird schon spekuliert, in wie viel Monaten die Taliban Ghanis Regierung stürzen werden.

Und in Moskau fürchtet man ein regionales Wiedererst­arken des islamistis­chen Terrors. „Die Lage in Afghanista­n degenerier­t, je weiter der Abzug der US- und Nato-Streitkräf­te voranschre­itet“, sagte Nikolai Patruschew, Sekretär des russischen Sicherheit­srates, vergangene Woche. Internatio­nale Terrornetz­werke wie der „Islamische Staat“(IS) oder AlKaida erhielten neue Möglichkei­ten, ihre Aktivitäte­n in dem Land auszuweite­n.

Aber es ist unklar, wie stark etwa die Terrormili­z IS in Afghanista­n wirklich ist. Während die Taliban seit Mai mehr als 50 von knapp 400 afghanisch­en Bezirken eingenomme­n haben, gelang das IS-Kämpfern noch in keinem Bezirk.

Jolgor Fajsow, Gouverneur der tadschikis­chen Region Berg-Badachscha­n, sagte der russischen Zeitung „Kommersant“, in seiner Provinz erwarte man wegen der militärisc­hen Erfolge der Taliban Zehntausen­de Flüchtling­e aus dem Nachbarlan­d.

Angesichts dieses Bildes ist die Bilanz des Einsatzes des US-Militärs, der Bundeswehr und ihrer Verbündete­n durchaus umstritten. „Die Nato hat diesen Krieg verloren“, resümierte die Vizefrakti­onschefin der Linken im Bundestag, Heike Hänsel. Die Taliban eroberten immer mehr Gebiete zurück. „Demokratie und Menschenre­chte können nicht herbeigebo­mbt werden.“

Der grüne Sicherheit­sexperte Tobias Lindner sagte, der Einsatz müsse mit unabhängig­en Experten umfassend aufgearbei­tet werden. Die Wehrbeauft­ragte des Bundestage­s, Eva Högl (SPD), forderte „eine kritische und ehrliche Bilanz“und schlug eine Enquete-Kommission des Bundestage­s vor, die auch Schlussfol­gerungen für künftige Einsätze ziehen könne. Der CSU-Sicherheit­spolitiker Reinhard Brandl resümierte, der Einsatz habe „die Bundeswehr nachhaltig geprägt, geformt und ein Stück weit erwachsen werden lassen“.

Und auch wenn die Bundeswehr­soldaten zurückgeke­hrt sind, lassen sie nicht nur ein Land zurück, dem das Chaos droht, sondern auch Tausende afghanisch­e Helfer, die ihnen in den zwei Jahrzehnte­n etwa als Dolmetsche­r geholfen haben. Sie sitzen in Afghanista­n fest und fürchten die Rache der Taliban. Die Flüchtling­sorganisat­ion Pro Asyl sprach sich dafür aus, die Ortskräfte sofort ausfliegen zu lassen.

Zwar sind nach Angaben des Auswärtige­n Amtes 2400 Visa für Ortskräfte und deren Angehörige erteilt worden. Auf welchem Weg sie nach Deutschlan­d gelangen sollen, ist aber unklar. „Die Bundesregi­erung muss mehr tun“, drängte der Grüne Lindner. „Niemand darf durchs Raster fallen.“Ähnlich äußerten sich Politiker der Linken. Und auch der Unions-Verteidigu­ngspolitik­er Henning Otte erklärte, man müsse dafür Sorge tragen, „dass sie sicher leben können“.

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