Glückliche Heimkehr vom Hindukusch
Bundeswehr beendet Afghanistan-Einsatz – Islamisten rücken im Krisenland vor
- Mit ihrer hoch erhobenen schwarz-rot-goldenen Truppenfahne entstiegen sie am Mittwoch dem grauen Riesenflugzeug A 400 M auf dem niedersächischen Fliegerhorst Wunstorf: die letzten BundeswehrSoldaten, die aus Afghanistan zurückgekehrt sind. Mit ihnen endet ein Einsatz, der kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 als erster gemeinsamer Nato-Verteidigungsfall begann und zwei Jahrzehnte dauerte. Ein historischer Moment.
Der Empfang auf dem Flugfeld war dann doch ein wenig unterkühlt: ein Appell, vorschriftsmäßig mit Corona-Maske. Nicht einmal Verteidigungsministerin Annegret KrampKarrenbauer (CDU) war da, sie traf am selben Tag in den USA ihren Amtskollegen Lloyd Austin. Der ebenfalls zurückgekehrte Kommandeur der deutschen Soldaten in Afghanistan, Brigadegeneral Ansgar Meyer, bedankte sich nach der Landung bei den Soldatinnen und Soldaten: „Mission accomplished – Sie haben Ihren Auftrag erfüllt.“Immerhin hatte die Ministerin in der Nacht zuvor ein paar Worte in die Welt geschickt, um das „historische Kapitel“zu würdigen, „bei dem Angehörige unserer Streitkräfte an Leib und Seele verletzt wurden, bei dem Menschen ihr Leben verloren haben, bei dem wir Gefallene zu beklagen hatten. Meine Gedanken sind bei ihnen, sie bleiben unvergessen“.
Die zurückgekehrten Bundeswehr-Soldaten sind heil aus dem mittelasiatischen Krisenland herausgekommen, doch es droht nun wieder zurück in die Hände der radikalislamischen Taliban zu fallen. In welchem Zustand sie es zurücklassen, wird klar, wenn man sieht, in welchem Tempo sich die Taliban daran machen, noch vor dem Ende des Abzugs der USA und ihrer Verbündeten die Truppen der von Amerika gestützten Zentralregierung unter Präsident Aschraf Ghani zu überrennen – und zum Teil sogar aus dem Land zu treiben.
An mehreren Punkten haben die Taliban die Grenzen zu den zentralasiatischen Nachbarländern erreicht. Bei tagelangen Kämpfen um die Grenzstadt Schir Chan Bandar in der Provinz Kundus wurden mehr als 100 Regierungssoldaten von den Taliban getötet, verletzt oder gefangen genommen. Schließlich flohen in der vergangenen Woche 134 Soldaten über die Grenze nach Tadschikistan, einen Tag später retteten sich 53 ihrer Kameraden aus dem umkämpften Landkreis Schortepa in der BalchProvinz ins benachbarte Usbekistan. Auch die Stadt Masar-i-Scharif, bis zuletzt das Hauptquartier des Bundeswehrkontingents in Afghanistan, wird laut dem afghanischen TV-Sender Tolo-News von Taliban belagert.
Die Staatschefs Usbekistans und Tadschikistans, Schawkat Mirsijojew und Emomali Rachmon, telefonierten besorgt miteinander, in mittelasiatischen Hauptstädten wird schon spekuliert, in wie viel Monaten die Taliban Ghanis Regierung stürzen werden.
Und in Moskau fürchtet man ein regionales Wiedererstarken des islamistischen Terrors. „Die Lage in Afghanistan degeneriert, je weiter der Abzug der US- und Nato-Streitkräfte voranschreitet“, sagte Nikolai Patruschew, Sekretär des russischen Sicherheitsrates, vergangene Woche. Internationale Terrornetzwerke wie der „Islamische Staat“(IS) oder AlKaida erhielten neue Möglichkeiten, ihre Aktivitäten in dem Land auszuweiten.
Aber es ist unklar, wie stark etwa die Terrormiliz IS in Afghanistan wirklich ist. Während die Taliban seit Mai mehr als 50 von knapp 400 afghanischen Bezirken eingenommen haben, gelang das IS-Kämpfern noch in keinem Bezirk.
Jolgor Fajsow, Gouverneur der tadschikischen Region Berg-Badachschan, sagte der russischen Zeitung „Kommersant“, in seiner Provinz erwarte man wegen der militärischen Erfolge der Taliban Zehntausende Flüchtlinge aus dem Nachbarland.
Angesichts dieses Bildes ist die Bilanz des Einsatzes des US-Militärs, der Bundeswehr und ihrer Verbündeten durchaus umstritten. „Die Nato hat diesen Krieg verloren“, resümierte die Vizefraktionschefin der Linken im Bundestag, Heike Hänsel. Die Taliban eroberten immer mehr Gebiete zurück. „Demokratie und Menschenrechte können nicht herbeigebombt werden.“
Der grüne Sicherheitsexperte Tobias Lindner sagte, der Einsatz müsse mit unabhängigen Experten umfassend aufgearbeitet werden. Die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl (SPD), forderte „eine kritische und ehrliche Bilanz“und schlug eine Enquete-Kommission des Bundestages vor, die auch Schlussfolgerungen für künftige Einsätze ziehen könne. Der CSU-Sicherheitspolitiker Reinhard Brandl resümierte, der Einsatz habe „die Bundeswehr nachhaltig geprägt, geformt und ein Stück weit erwachsen werden lassen“.
Und auch wenn die Bundeswehrsoldaten zurückgekehrt sind, lassen sie nicht nur ein Land zurück, dem das Chaos droht, sondern auch Tausende afghanische Helfer, die ihnen in den zwei Jahrzehnten etwa als Dolmetscher geholfen haben. Sie sitzen in Afghanistan fest und fürchten die Rache der Taliban. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl sprach sich dafür aus, die Ortskräfte sofort ausfliegen zu lassen.
Zwar sind nach Angaben des Auswärtigen Amtes 2400 Visa für Ortskräfte und deren Angehörige erteilt worden. Auf welchem Weg sie nach Deutschland gelangen sollen, ist aber unklar. „Die Bundesregierung muss mehr tun“, drängte der Grüne Lindner. „Niemand darf durchs Raster fallen.“Ähnlich äußerten sich Politiker der Linken. Und auch der Unions-Verteidigungspolitiker Henning Otte erklärte, man müsse dafür Sorge tragen, „dass sie sicher leben können“.