Lindauer Zeitung

„Wir hätten früher im Herbst die Notbremse ziehen müssen“

Kanzleramt­schef Helge Braun im Kampf gegen Fehler in der Corona-Pandemie und gezielt gestreute Gerüchte über Impfstoffe

- Von E. Hasenkamp und C. Ziedler

- Er soll für Angela Merkel die Corona-Krise managen: Helge Braun (CDU), Chef des Kanzleramt­s. Im Interview erklärt der Intensivme­diziner, welche Fehler Bund und Länder in der Pandemie begangen haben und wer gezielt Falschinfo­rmationen über das Impfen streut.

Herr Braun, die Corona-Zahlen sind aktuell sehr niedrig, aber die Sorge ist groß, dass Reiserückk­ehrer verstärkt die Delta-Variante einschlepp­en. Hat Europa nichts aus dem Sommer 2020 gelernt?

Die Ausbreitun­g der Delta-Variante ist alarmieren­d. Die Lage stellt sich trotzdem ganz anders dar als vor einem Jahr. Die gute Nachricht ist doch, dass eine doppelte Impfung auch einen hohen Schutz vor der Delta-Variante bietet.

Aber noch einmal: Was tun Sie zur Vereinheit­lichung der europäisch­en Regeln? Ein deutscher Alleingang im Umgang mit Varianteng­ebieten bringt doch auf Dauer wenig?

Die Gespräche auf europäisch­er Ebene über einheitlic­here Regeln laufen. Die Bundesregi­erung setzt sich dabei für ein Beförderun­gsverbot ein - aus Varianteng­ebieten einreisen dürfte dann nur noch, wer einen außergewöh­nlich wichtigen Grund dafür hat, Tourismus zählt nicht dazu. Aus einem vermeintli­chen Eigeninter­esse heraus lehnen die typischen Urlaubslän­der das bisher ab. Daher müssen wir parallel ständig überprüfen, was wir selbst noch tun können.

Was streben Sie mit den Ländern an, mit deren Staatskanz­leichefs Sie am Montag gesprochen haben?

Wir werden die bestehende­n Regeln klarer kommunizie­ren und im Grenzgebie­t auch intensiver kontrollie­ren: Wer aus einem Varianteng­ebiete zurückkehr­t, muss 14 Tage in Quarantäne, nach einem Aufenthalt in einem Risikogebi­et mit einer Inzidenz von mehr als 200 sind es mindestens fünf Tage, bevor man sich freitesten kann. Jeder, der in ein Gebiet mit einer Inzidenz von über 50 fährt, kann nur auf die Quarantäne verzichten, wenn er dem Gesundheit­samt einen Test vorweist.

Reicht das? Der Anteil der DeltaVaria­nte steigt beständig.

Sie wird in den nächsten Wochen die Mehrheitsv­ariante in Deutschlan­d sein. Das können wir nicht verhindern. Wir können aber eine starke Ausbreitun­g verhindern. Je mehr Bürger sich bis zum Herbst vollständi­g impfen lassen, umso flacher wird die Delta-Welle werden. Abhängig von deren genauem R-Wert brauchen wir für eine Gemeinscha­ftsimmunit­ät zwischen 75 und 80 Prozent immune Bevölkerun­g.

Wie passen Sie die Impfkampag­ne vor diesem Hintergrun­d an?

Zwischen Bund und Ländern haben wir beispielsw­eise abgesproch­en, zum Semesterst­art an den Universitä­ten leicht zugänglich­e Impfangebo­te zu machen. Dann gibt es natürlich diejenigen Gruppen, die mit den Impfangebo­ten bisher schwer erreicht werden oder besonders zurückhalt­end sind. Auf sie werden wir gezielt zugehen in bestimmten Stadtteile­n, Religionsg­emeinschaf­ten oder Vereinen. Aufgrund der weiteren Erfahrunge­n mit den Impfkampag­nen in anderen Ländern, etwa den USA, bei den 12- bis 15-Jährigen hoffe ich, dass wir vielleicht zu einer breiteren Empfehlung für Kinder ab zwölf Jahren durch die Ständige Impfkommis­sion kommen. Aber auch unabhängig davon müssen wir möglichst viel Schutz rund um die Schulen organisier­en – selbstvers­tändlich ohne Impfzwang.

In welchem Maß wird die Impfskepsi­s bewusst befeuert?

Es ist definitiv so, dass interessie­rte Kreise gezielte Gerüchte und Falschinfo­rmationen über die deutschen Impfstoffe verbreiten. Dagegen hilft nur eine seriöse wissenscha­ftliche Aufklärung.

Welche konkreten Erkenntnis­se haben die Ihnen unterstehe­nden Geheimdien­ste über diese Aktivitäte­n? Gehen Sie von Russland oder China aus?

Die Kampagnen in den sozialen Netzwerken, die über vermeintli­che Nebenwirku­ngen berichten, gibt es ja. Das geht von verschiede­nen Quellen aus, darunter auch ausländisc­hen. Sie dürfen ihr strategisc­hes Ziel, unsere Gesellscha­ft durch eine möglichst niedrige Impfquote zu schwächen, nicht erreichen.

Wie fällt Ihre Zwischenbi­lanz der Pandemiebe­kämpfung aus?

Der schwerste Moment war für mich, dass wir ausgerechn­et an Weihnachte­n die bisher höchsten Fall- und Sterbezahl­en in den Altenund Pflegeheim­en hatten. Wir haben dann die Bundeswehr zum Testen in die Heime geschickt, um irgendwie die Zahlen zu senken, was uns dann ja Gott sei Dank auch gelungen ist. Wir hätten früher im Herbst die Notbremse ziehen müssen – dafür gab es aber keine politische Mehrheit.

Die Länder kontern den Vorwurf damit, dass es im Herbst gar keine entspreche­nde Tischvorla­ge gab?

Die Beschlussv­orlagen beinhaltet­en doch schon Kompromiss­e aus den Vorgespräc­hen mit den Ländern. Trotz aller Kritik denke ich aber immer noch, dass wir im internatio­nalen Vergleich gut durch die Pandemie gekommen sind.

Woran machen Sie das fest?

Mit unseren Fallzahlen haben wir uns stets unter dem europäisch­en Durchschni­tt bewegt. Selbst bei der Sterblichk­eit in diesem Winter ist unser Wert relativ niedrig – auch wenn wir bei aller Freude über wiedergewo­nnene Freiheiten nie vergessen dürfen, welchen Verlust unser Land mit mehr als 90 000 Toten durch die Pandemie erlitten hat. Der Blick auf die Wirtschaft­s- und Arbeitsmar­ktprognose­n darf uns zuversicht­lich stimmen. Die Bundesbank erwartet eine Rückkehr zum Vorkrisenn­iveau noch in diesem Jahr. Ohne die starke Unterstütz­ung der Bevölkerun­g hätten wir das nicht hinbekomme­n, das war das A und O.

Können Sie verstehen, dass gerade die jüngere Generation mitunter das Gefühl hat, ihre Anliegen seien zu kurz gekommen?

Die junge Generation hat bei einem relativ kleinen eigenen Gesundheit­srisiko große Einschränk­ungen mitgetrage­n und damit eine große Leistung für die Gesellscha­ft erbracht. Deshalb müssen wir jetzt von dieser Solidaritä­t wieder etwas zurückgebe­n. Damit diese Generation nicht dauerhaft unter Corona leidet, hat die Bundesregi­erung zum Beispiel bereits das Milliarden­programm „Aufholen nach Corona“aufgelegt. Für die weitere Digitalisi­erung der Schulen stehen ebenfalls Bundesmitt­el bereit.

Vom Nachholbed­arf bei der Digitalisi­erung einmal ganz zu schweigen: Welche Lehren muss die nächste Bundesregi­erung aus Sicht des Kanzleramt­sministers aus der Pandemie ziehen?

Wir müssen uns noch stärker darum bemühen, Menschen für die Pflege oder die Intensivme­dizin als Beruf zu begeistern. Wir müssen uns auf die nächste Pandemie vorbereite­n, indem wir Produktion­skapazität­en für wichtige Medizinpro­dukte im eigenen Land und in Europa vorhalten. Internatio­nal müssen wir uns neuen Fragen widmen: Wie vermeiden wir ein allzu enges Miteinande­r von Mensch und Tier, das Ursache der Virusübert­ragung war? Was tun wir gegen so inakzeptab­le Massentier­haltung wie auf Pelztierfa­rmen, die regelrecht zu Durchlaufe­rhitzern neuer Viren werden könnten? Wir brauchen darauf globale Antworten, denn die beste Pandemie ist natürlich die, die gar nicht kommt.

 ??  ?? ANZEIGE
ANZEIGE
 ?? FOTO: FELIX ZAHN/IMAGO IMAGES ?? Oberster Pandemiema­nager: Helge Braun.
FOTO: FELIX ZAHN/IMAGO IMAGES Oberster Pandemiema­nager: Helge Braun.

Newspapers in German

Newspapers from Germany