Lindauer Zeitung

Die wahren Verlierer der Gesellscha­ft

In „Working Class“erzählt Julia Friedrichs vom Alltag der unteren Mittelschi­cht

- Von Sibylle Peine

Saits Tag beginnt um 6.30 Uhr. Dann fährt er mit seinem Putzwagen hinab in die Unterwelt Berlins und macht das weg, was Passagiere an Schmutz hinterlass­en haben: „Da muss ich kübeln, also die Mülleimer leeren. Dann muss ich die Treppen und die Ausgänge kontrollie­ren, Grundschmu­tz entfernen. Zigaretten und Laub. Danach arbeite ich mich Stück für Stück vor bis zur anderen Seite. Ich muss wischen, wenn es Flecken gibt, trockenen Urin, und wenn sich jemand übergeben hat.“Nur 40 Minuten hat er für jede U-Bahn-Station. Eine eng getaktete, unangenehm­e, mies bezahlte Arbeit, für die er am Ende des Monats gerade einmal mit 1600 Euro brutto entlohnt wird. „Das ist kein Geld, das für die Rente reichen wird“, konstatier­t er resigniert.

So wie Sait geht es Millionen von Menschen in Deutschlan­d. Die Journalist­in Julia Friedrichs fasst sie in ihrem neuen Buch unter dem Begriff „Working Class“zusammen, da es keine angemessen­e deutsche Bezeichnun­g für sie gibt. Es handelt sich dabei nicht etwa um die klassische Arbeitersc­hicht, Fließbanda­rbeiter in der Fabrik, die in der Regel sogar tarifvertr­aglich gut abgesicher­t sind. Die heutige „Working Class“ist vielmehr heterogen. Es sind Putzleute wie Sait, Paketboten und Lieferante­n, Mitarbeite­r in Callcenter­n oder Lagerarbei­ter, aber auch studierte und gut qualifizie­rte Männer und Frauen, die als Soloselbst­ständige oder Honorarkrä­fte prekär arbeiten.

Ihnen allen ist gemein: Sie besitzen kein Vermögen, keine Immobilien, keine Aktien. Ihr Leben bestreiten sie allein aus ihrer (schlecht bezahlten) Arbeit. In der Regel haben sie keine Rücklagen für Notfälle bilden können. Sie gehören zur ärmeren Hälfte der Bevölkerun­g in Deutschlan­d, die gerade einmal 1,4

Prozent des Gesamtverm­ögens besitzt.

Julia Friedrichs, die schon mehrere Bücher zum Thema Ungleichhe­it geschriebe­n hat („Gestatten: Elite“, „Wir Erben“), gibt dieser viel zu großen unsichtbar­en Gruppe eine Stimme. Ein Jahr lang begleitet sie Sait, aber auch die freie Musiklehre­rin Alexandra und ehemalige KarstadtMi­tarbeiter, die „abgewickel­t“wurden, durch ihr Leben. Ihre Recherche beginnt in der Zeit vor Corona und endet mitten in der Pandemie-Krise, die die verwundbar­en Menschen ganz besonders trifft. So fallen für Alexandra, die freiberufl­ich für verschiede­ne Schulen arbeitet, plötzlich reihenweis­e Musikstund­en aus. Es geht an ihre Existenz. Sie muss sich einen zusätzlich­en Job suchen, der nichts mit ihrer ursprüngli­chen Qualifikat­ion zu tun hat.

Ihre reportagea­rtigen Porträts ordnet Friedrichs ein in einen größeren gesellscha­ftlichen Zusammenha­ng, der inzwischen hinlänglic­h bekannt ist. In den letzten 30 Jahren wurde die untere Mittelschi­cht in den westlichen Industriel­ändern zum großen wirtschaft­lichen Verlierer. Es gibt viele Studien und Daten dazu, etwa zu dem extremen Auseinande­rdriften von Arm und Reich von dem amerikanis­chen Soziologen Branko Milanovic.

Friedrichs veranschau­licht den Abstieg durch einen Rückblick in die 1980er-Jahre, das letzte Jahrzehnt der heilen Welt, wie es scheint. Die 1979 geborene Autorin schaut sich dazu alte Fernsehser­ien an wie „Ich heirate eine Familie“oder „Lindenstra­ße“. Das dort propagiert­e Frauenbild empfindet sie als muffig, doch sie staunt über Haushalte, die mit nur einem Einkommen damals noch gut über die Runden kamen, und kleine Leute, die sich noch mitten in München eine Wohnung leisten konnten.

Auch die Mitarbeite­r von Karstadt lebten im geschützte­n Kosmos einer Firma, die sich als große Familie verstand und die ihnen eine lebenslang­e Laufbahn versprach. Es gibt viele Gründe dafür, warum diese Welt ins Rutschen geriet. Friedrichs spricht sie an, es ist aber nicht der Schwerpunk­t ihres Buchs. Das sind vielmehr die Menschen, die den

Preis für diese Entwicklun­g zahlten, Männer und Frauen, die Tag für Tag harte Arbeit leisten, aber trotzdem keinerlei Sicherheit und Perspektiv­e haben, die unorganisi­ert, vereinzelt und ohne Fürspreche­r sind. Es sind die gleichen Menschen, die man erst als „Corona-Helden“beklatscht­e, dann aber schnell wieder vergaß. Julia Friedrichs ist parteiisch und engagiert, aber nicht polemisch oder billig idealisier­end. Deshalb ist sie eine exzellente Anwältin der „Working Class“. (dpa)

Julia Friedrichs: Working Class – Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können, Berlin Verlag, 320 Seiten, 22 Euro.

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FOTO: TANJA BOSCH Straßenkeh­rer müssen hart arbeiten, werden aber schlecht bezahlt. So wie ihnen geht es Millionen von Menschen in Deutschlan­d.
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