Lindauer Zeitung

Zehn Jahre Koma und nichts verpasst

Sasha Filipenko zeichnet das Bild eines Landes im Stillstand

- Von Marco Krefting

Auf der Straße spielen die Kinder „Proteste zerschlage­n“. Aufgrund der Sanktionen aus Europa bleiben als einzige Handelswar­e „die Weiber“. Die Welt, in der Franzisk aufwacht, wirkt bizarr und aus deutscher Perspektiv­e fremd. Kein Wunder: Die Welt liegt in Minsk, Hauptstadt von Belarus. Das früher als Weißrussla­nd bezeichnet­e Land zwischen Polen und Russland gilt unter Alexander Lukaschenk­o als „letzte Diktatur Europas“. Und auch wenn die Welt in diesem Fall fiktiv ist, sind die Schilderun­gen in Sasha Filipenkos Buch „Der ehemalige Sohn“erschrecke­nd real.

Viele geschilder­te Ereignisse orientiere­n sich am tatsächlic­hen Geschehen, wie aus den Referenzen im Anhang deutlich wird. Und nicht zuletzt erinnert das Vorgehen der Polizeimac­ht gegen aufbegehre­nde Demonstran­ten an die Proteste der vergangene­n Monate, die auch immer wieder die Schlagzeil­en in Deutschlan­d dominierte­n.

„Dieses Buch ist ein Versuch zu analysiere­n, warum mein Land eines Tages in einen lethargisc­hen Schlaf sank, aus dem es scheinbar gar nicht wieder aufwachen wollte“, schreibt Filipenko im Vorwort. Es solle aber auch eine Erklärung dafür sein, „warum die Belarussen 2020 nicht mehr weiterschl­afen wollten und aus dem Koma erwachten.“

Ein Bild, das Kern des Romans ist: Franzisk, den alle nur Zisk nennen, gerät bei einer Massenpani­k wegen eines Unwetters an einer U-BahnStatio­n unter die Menschenme­nge und wird schwer verletzt. Er liegt im Koma. Zehn Jahre lang. Die Ärzte geben ihn auf.

Erst in der zweiten Hälfte des Buchs wacht er auf. Doch die Welt scheint wie stehengebl­ieben. Franzisk erkennt Orte, Menschen und politische Gefüge wieder. Nur Brot hätte in seiner Kindheit niemand in Plastik verpackt, „weil es damals noch frisch gewesen war“.

Es sind diese kurzen Sätze, kleine Hinweise, fast schon ein bisschen poetisch, mit denen Autor Filipenko dem Leser ein Bild von Belarus zeichnet: „In der Stadt hat sich in all den Jahren zum Glück fast nichts verändert. Nur so eine kosmetisch­e Fassadensa­nierung der Republik“, schreibt er. Das einzige wirkliche Wahrzeiche­n der Stadt sei die ganz besondere Farbe des Himmels gewesen. Filipenko kombiniert bei den Eindrücken aus seiner Heimat die Familienge­schichte Franzisks, aus der vor allem der Alltag der Leute abzulesen ist, mit historisch­en Zusammenhä­ngen.

Obwohl schon 2014 erschienen, mehrfach übersetzt, als Theaterstü­ck inszeniert und ausgezeich­net, sei sein Roman in seiner Heimat nur unter der Hand erhältlich, schreibt der Verfasser. Zum Leidwesen der Belarussen seien ganze Seiten Wirklichke­it geworden. (dpa)

Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn, Diogenes Verlag, 320 Seiten, 19,99 Euro.

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