CAN live in Hochform
Welch Bohei um den gerade erschienenen Livemitschnitt eines Auftrittes von CAN 1975 in Stuttgart!
Irmin Schmidt, letzter noch Lebender der AvantgardeGruppe aus Köln, hat analoge Spuren digitalisiert, bearbeitet. Die Resonanz verblüfft ein wenig: (Fast) alle Feuilletons der überregionalen Magazine und Zeitungen steigen ein, dazu die meisten Kulturkanäle von Hörfunk und Sendeanstalten. Warum?
Ohne Frage ist CAN eine der wegweisenden Bands der damaligen Bundesrepublik. Experimentierfreudig, weniger eindimensional als die Computerjungs von Kraftwerk, eingängiger als die Einstürzenden Neubauten. Irmin Schmidt (Keyboard/ Synthesizer) sowie der Basser Holger Czukay haben bei Karlheinz Stockhausen in Köln Komposition studiert, danach kommt simpler Krautrock natürlich nicht mehr infrage. Erweiterter Kunstbegriff ist Motto. Seit Mitte der 60er-Jahre entwerfen die beiden in Schloss Nörvenich nahe Köln ihre neuen Sounds. Dabei: Jaki Liebezeit, renommierter Drummer im Jazz, Michael Karoli, ein eher suchender Gitarrist. Und, in den Anfangszeiten, am Mikro der etwas irre Malcolm Mooney. Er singt auf der ersten LP „Monstermovie“den langen Track „Yoo Doo Right“. Für manche, die damals jung waren, der Sound auf ihrem Weg ins nimmer ganz einfache Leben. Schmerz, Sehnsucht, Sex, Verlust.
Was macht den Reiz dieser Liveaufnahme aus Stuttgart im Jahr 1975 nun aus? Zunächst die Seltenheit. CAN haben viele Studioalben produziert, dazu 21 Filmmusiken. Das hat sie finanziell von Chartserfolgen unabhängig gemacht. Live gibt es sie nur auf vier Tracks der „Lost Tapes“von 2012, Fundstücke aus ihrem Studio
– ebenfalls von Irmin Schmidt digital aufbereitet. Bootlegs der Auftritte von CAN – vor allem in Großbritannien haben sie viele, viele Fans – sind soundtechnisch ziemlich mies. Damals hat man noch heimlich aufgenommen, auf einem batteriebetriebenen schmalspurigen Rekorder. Erst später kamen Vierspur-Tonmaschinen hinzu. Welch Unterschied zu den heutigen Konzertaufnahmen, mit 32 plus, plus digitalen Kanälen!
Also ins Stuttgarter Konzert, zwei CDs, reinhören. Instrumental, ohne Sänger. Track 1 ist „Turkish Topkapi Music“, sprich, der damals angesagte Ethnosound. Langsam tasten die Musiker sich vor, sie nehmen sich Zeit, das Thema zu entwickeln. Eine besondere Stärke von CAN. Immer wider erkennt man Fragmente der Studioalben. Weiter geht’s im ständigen Flow, irgendwo schimmert denn doch etwas Krautrock durch, aber alles verändert sich. Die Drums von Jacki Liebezeit, anfangs stoisch, treiben voran, Holger Czukay bringt einen ungewöhnlichen E-Bass. Michael Karoli spielt zunächst erwartbar, treibt dann seine E-Gitarre gegen die Sterne. Irmin Schmidt haut mit Keyboard und Synthi dazwischen, das passt, reißt den Sound auf. Ergibt tatsächlich bislang ungehörte Klangbilder.
Schon ein Erlebnis, Einblick in die vergangene Ära des Avant-Rock. Komplex, spannend, so man sich drauf einlässt. Aber bei Weitem nicht so spektakulär, wie manche Kommentare suggerieren. Wer CAN nahekommen will, sollte, nach wie vor, auch die Studioalben anhören. Heute noch gut! (bgw)
CAN: Live in Stuttgart 1975, Spoon Records 2021.