Lindauer Zeitung

Viele Fragezeich­en für Flick

Die Ära Löw ist abgeschlos­sen – Beim DFB geht es nun an die Neuausrich­tung mit dem künftigen Bundestrai­ner

- Von Patrick Strasser

- Die Zukunft kam aufs Feld als in der Gegenwart schon längst alles zu spät war, als dieses EM-Achtelfina­le gegen die von der Stimmung im Wembleysta­dion und ihrer eigenen Euphorie getragenen Engländer längst entschiede­n und bereits beinahe Vergangenh­eit war.

In der 92. Minute nahm Joachim Löw in seinem 198. und letzten Länderspie­l, nach 15 Jahren im höchsten Amt der Trainergil­de hierzuland­e, seinen letzten Spielerwec­hsel vor. Thomas Müller, das Sinnbild der erhofften Renaissanc­e des Weltmeiste­r-Spirits von 2014, musste in der Nachspielz­eit den Platz verlassen. Das Küken des Teams, Spitzname Bambi, der 18-jährige Jamal Musiala, beim Triumph von Rio gerade einmal elf Jahre alt, durfte noch zwei Minuten mitmischen. Warum? Weil er in England gelebt und in Chelseas Jugend gespielt hat?

Beim 2:2 gegen Ungarn, als Leon Goretzka mit seinem Ausgleichs­treffer das Achtelfina­l-Ticket gesichert hatte, war es Bayern-Profi Musiala, der mit seinem Dribbling samt Pass die Bahn frei gemacht hatte. Unbekümmer­t, leichtfüßi­g, frech. In den 120 Sekunden nach seiner Einwechslu­ng gegen England konnte Musiala natürlich nichts mehr anrichten. Zu späte Wechsel, zu wenig Risikobere­itschaft, keinen Mut zur Systemumst­ellung, keine taktische Flexibilit­ät – all das kann Hansi Flick ab September besser machen, wenn der ehemalige Mehr-Erfolg-geht-fastnicht-Trainer des FC Bayern Löws Erbe antritt und der nächste Bundestrai­ner wird.

Es ist Zeit für Veränderun­g, für einen neuen Ansatz, eine andere Herangehen­sweise. Für eine aktivere Spielweise ohne Abwarten und Vertrauen auf eigene, frühere Stärken. Dass Flick eine Mannschaft aus den verschiede­nsten Charaktere­n und Altersstuf­en einen und mitreißen kann, hat er mit seinen sieben Titeln in München inklusive der Krönung Champions-League-Triumph 2020 in Lissabon bewiesen. Fördern und fordern – das ist sein Credo. Aus Spielerkre­isen ist zu hören, dass sie sich freuen auf den Neustart, auf den Reset unter Flick.

Löw bekam es nicht hin, die Helden von Rio 2014, speziell die Rückkehrer Thomas Müller und Mats Hummels mit ihrer so talentiert­en Nachfolger-Generation um Havertz,

Gnabry, Kimmich, Goretzka und Rüdiger zu einer geschmeidi­gen Einheit zu formen. Diese Nationalel­f braucht frisches Blut und einen klaren Schwerpunk­t: Nicht mehr nur Schwächen ausmerzen, sondern die Stärksten dort spielen lassen, wo sie am stärksten sind.

Stichpunkt Joshua Kimmich, unter Löw Rechtsvert­eidiger in der Not mangels Klasse auf dieser Position: Flick wird auf seine frühere BayernZent­rale, den Maschinenr­aum mit Kimmich und Leon Goretzka, in der Zentrale setzen. Für den bei dieser EM teils trägen Ilkay Gündogan (30) wird es daher in Zukunft schwer, seinen Platz in der Startelf zu verteidige­n. Eine frische Alternativ­e wäre Gladbachs Florian Neuhaus (24), von Löw in höchsten Tönen gelobt, aber keine Minute bei der EM eingesetzt. Und der 31-jährige Toni Kroos? Der Spielermac­her von Real Madrid, immer noch ein wichtiger Ballvertei­ler und Rhythmusge­ber, scheint über seinem Zenit. Geht es ums Pressing, um Umschaltmo­mente und das Einschalte­n

des Turbos hat die personifiz­ierte Passmaschi­ne Defizite. Kroos könnte Flick einen großen Gefallen

Dass die deutsche Nationalma­nnschaft bei ihrer Rückreise aus England – anders als ein Deutscher Fan – nicht von der zweiwöchig­en Corona-Quarantäne­pflicht betroffen ist, hat mit diversen Sonderrege­lungen zu tun, die die UEFA im Zuge des Turniers zusammen mit den betreffend­en Ländern auf den Weg brachte. Auch zahlreiche VIP-Gäste der UEFA sind von diesen PandemieSc­hutzmaßnah­men befreit. Inklusive der Medienscha­ffenden und der Verbandsfu­nktionäre zählt die UFEA 2 500 wichtige Gäste, für die sie sich vor allem mit Blick auf die Halbfinals und das Endspiel in London bereits Sonderrege­lungen ausbedunge­n hat. Sie müssen

tun, indem er nun von sich aus zurücktrit­t und damit eine Debatte über seine Relevanz und Tauglichke­it nicht in Quarantäne, sollen sich jedoch ausschließ­lich im Hotelzimme­r und im Stadion aufhalten dürfen. Wie und ob dies kontrollie­rt wird, ist nicht bekannt. Ähnlich sind die Regelungen für das noch in München stattfinde­nde Viertelfin­ale. Bereits Anfang Juni hatte dies das Kabinett in Berlin beschlosse­n.

Für diese Ausnahmere­gelung sei jeder erfasst, der zur Teilnahme, Vorbereitu­ng, Durchführu­ng und Nachbereit­ung internatio­naler Sportveran­staltungen durch das jeweilige Organisati­onskomitee akkreditie­rt worden sei.

für die Nationalel­f mit Blick auf die Winter-WM 2022 in Katar verhindert. Was mit Abstrichen auch für Antreiber Müller gilt. Doch Flick ist Fan von Müller (31), seinem verlängert­en Arm auf dem Platz.

Und wer weiß? Findet Innenverte­idiger Jérôme Boateng (32), von Flick als Fußballer reanimiert, nach Ende seines Vertrages bei Bayern demnächst einen Verein, bei dem er auf hohem Niveau trainieren und regelmäßig spielen kann, dürfte ihm der neue Bundestrai­ner die Tür zur Rückkehr öffnen. Diese Tür wäre noch größer, wenn Mats Hummels (32), neben Müller der zweite unglücklic­he EM-Rückkehrer, keine Zukunft in der Nationalel­f sehen würde. Über einen Rücktritt nach dem Kurzcomeba­ck werde er „irgendwann in ein paar Wochen“nachdenken, so Hummels: „Das Turnier muss ich jetzt alles in allem leider als Enttäuschu­ng abhaken.“

Wie im Grunde die gesamte Offensive abgesehen von Kai Havertz, der neben seinen zwei Toren (von lediglich vier DFB-Turniertre­ffern insgesamt, zweimal halfen die Portugiese­n mit Eigentoren aus) auch in London die meiste Torgefahr ausstrahlt­e und die besten Chancen hatte beziehungs­weise einleitete. Um den talentiert­esten Angreifer seiner Altersklas­se herum wird Flick die Offensive aufbauen und versuchen, den zuletzt rätselhaft schwachen Serge Gnabry wieder in die Spur bekommen. Bei Timo Werner muss erneut Trainer Thomas Tuchel beim FC Chelsea Aufbauarbe­it leisten, dasselbe gilt für Leroy Sané. Kann Julian Nagelsmann das Supertalen­t erreichen und ihn zu einem anderen, aggressive­ren, extroverti­erteren Spieler mit positivere­r Ausstrahlu­ng machen? Pep Guardiola, Jogi Löw und teils auch Flick bei Bayern sind an dieser Aufgabe gescheiter­t.

Oldie Manuel Neuer (35) hatte bereits vor dem Turnier erklärt, unter Flick weitermach­en zu wollen. Der Torhüter ist für den neuen Bundestrai­ner eine tragende Säule und in der neuen DFB-Ära ein wichtiger Fixpunkt für das Küken, für Musiala. Anders als Sané ist er kein Verspreche­n auf die Zukunft, sondern eine echte Hoffnung. Aus dem Team der U21-Europameis­ter von Trainer Stefan Kuntz könnten Rechtsvert­eidiger Ridle Baku (23), Offensival­lrounder Florian Wirtz (18) sowie Mittelstür­mer Lukas Nmecha (22) aufrücken und frischen Wind bringen.

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FOTO: HOERMANN/IMAGO IMAGES Schon mittendrin und bald auch dabei: Hans-Dieter Flick beim EM-Vorrundens­piel in München.

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