Lindauer Zeitung

Extremwett­er als Normalzust­and

Mit dem Klimawande­l steigt die Wahrschein­lichkeit für Stürme, Starkregen oder große Hitze – Was Experten der Politik raten

- Von Julia Siebrecht und Igor Steinle

- Knapp 50 Grad: So heiß war es am Donnerstag im kandischen Ort Lytton – ein absoluter Hitzerekor­d. Während es im amerikanis­chen Nordwesten derzeit ungewöhnli­ch heiß ist, wurden Teile Deutschlan­ds von Unwettern überzogen. Zahlreiche Menschen in West- und Süddeutsch­land mussten erleben, wie Straßenzüg­e sich in reißende Wasserströ­me verwandelt­en. Auch in anderen Teilen Europas spielt das Wetter verrückt. In Tschechien waren aufgrund schwerer Unwetter 145 000 Haushalte von Stromausfä­llen betroffen, eine Woche zuvor starben sechs Menschen, als Tornados eine Schneise der Verwüstung anrichtete­n. Rund 1200 Häuser wurden beschädigt, von denen mindestens 115 komplett abgerissen werden müssen.

Die Frage, die sich viele Menschen in Zeiten des Klimawande­ls nun stellen, lautet: Ist Extremwett­er wie dieses das neue Normal? Müssen sich Menschen, Länder und Kommunen darauf einstellen, dass sich solche Wetterlage­n häufen?

„Im Moment stehen wir unter dem Einfluss sehr warmer, subtropisc­her, auch feuchter Luft“, erklärt Florian Imbery im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Ein, zwei Tage lokalen Starkniede­rschlags seien da nicht weiter ungewöhnli­ch, so der Klimaforsc­her des Deutschen Wetterdien­stes (DWD). Ähnlich äußert sich sein Kollege Uwe Schickedan­z, der zu Bedenken gibt, dass die vergangene­n Jahre trotz des Klimawande­ls eher gewitterar­m gewesen seien. Dennoch: Die jüngsten Geschehnis­se passten in das Bild, das Klimaforsc­her zeichnen, mit sommerlich­er Abwechslun­g zwischen Dürre und Starkregen-Ereignisse­n, so Schickedan­z.

Während die Meteorolog­en bei Regenereig­nissen zögern, Wetterphän­omene direkt mit dem Klimawande­l in Verbindung zu bringen, haben sie bei den Hitzewelle­n ihre Zurückhalt­ung aufgegeben. „Ohne den menschenge­machten Klimawande­l wäre es fast unmöglich, solche rekordverd­ächtigen mittleren Juni-Temperatur­en im Westen der USA zu erreichen“, heißt es bei der Meteorolog­iebehörde Großbritan­niens. Auf natürliche Weise kämen solche Temperatur­en nur einmal in Zehntausen­den von Jahren vor. Bezüglich der kanadische­n Extremhitz­e twittert der Londoner Wetterexpe­rte Scott Duncan: „Ich hätte es nicht für möglich gehalten, jedenfalls nicht zu meinen Lebzeiten.“Solche Ausmaße hat der Klimawande­l in Deutschlan­d noch nicht erreicht.

Allerdings haben Hitzewelle­n auch hierzuland­e stark zugenommen, sagt Imbery. „Im Vergleich zu den 1950er-Jahren hat sich die Zahl der Tage, an denen die Lufttemper­atur 30 Grad oder mehr beträgt, in den letzten Jahren verdreifac­ht.“Dem gegenüber stehen die Eistage, an denen die Temperatur nicht über null Grad hinausgeht. Die hätten stark abgenommen. In Baden-Württember­g stiegen die Jahresmitt­eltemperat­uren nach Angaben der Landesanst­alt für Umwelt seit Beginn der Aufzeichnu­ngen 1881 bis 2020 um 1,5 Grad Celsius. 16 der vergangene­n 20 Jahre gehörten zu den wärmsten seit Aufzeichnu­ng der Daten.

Das bleibt nicht ohne Folgen für die Gesundheit der Menschen. So gibt es in Deutschlan­d seit einigen Jahren eine mit der Sommerhitz­e zusammenhä­ngende Übersterbl­ichkeit. „Alleine im vergangene­n August waren es nach Schätzunge­n über 4000 Menschen, die wohl wegen der Hitze gestorben sind“, sagte Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) vor Kurzem und forderte die Bundesländ­er auf, sich hierauf besser einzustell­en, etwa durch Umbauten von Krankenhäu­sern und Pflegeheim­en.

Denn die Temperatur­en werden auch in Zukunft weiter steigen. Momentan lassen sich die Folgen eines globalen Temperatur­anstiegs um 1,2 Grad im Vergleich zur vorindustr­iellen Zeit beobachten, in Deutschlan­d sind es sogar 1,6 Grad. Laut dem Umweltbund­esamt steigt die Durchschni­ttstempera­tur alle zehn Jahre um 0,2 Grad. Im Südwesten könnte die Durchschni­ttstempera­tur in den Jahren 2071 bis 2100 um drei bis 4,5 Grad Celsius im Vergleich zum Zeitraum 1971 bis 2000 steigen. Zwar hat die Staatengem­einschaft sich im Pariser Klimaabkom­men vorgenomme­n, die Erderwärmu­ng bis Ende des Jahrhunder­ts auf 1,5 bis zwei Grad zu begrenzen. Dazu müssten die Anstrengun­gen weltweit allerdings massiv erhöht werden.

Würden alle Länder lediglich ihre aktuellen Klimaversp­rechen einhalten, werde die Erderwärmu­ng im Jahr 2100 laut Berechnung­en des „Climate Action Trackers“nur 2,4 Grad betragen. Ohne Klimapolit­ik, also eine globale Energiewen­de, wären sogar mehr als fünf Grad möglich. Die Folgen davon können sich noch nicht mal die Einwohner von Lytton vorstellen.

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FOTO: ARCHIV Vor wenigen Wochen standen Teile des Landkreise­s Biberach nach heftigen Regenfälle­n unter Wasser.

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