Extremwetter als Normalzustand
Mit dem Klimawandel steigt die Wahrscheinlichkeit für Stürme, Starkregen oder große Hitze – Was Experten der Politik raten
- Knapp 50 Grad: So heiß war es am Donnerstag im kandischen Ort Lytton – ein absoluter Hitzerekord. Während es im amerikanischen Nordwesten derzeit ungewöhnlich heiß ist, wurden Teile Deutschlands von Unwettern überzogen. Zahlreiche Menschen in West- und Süddeutschland mussten erleben, wie Straßenzüge sich in reißende Wasserströme verwandelten. Auch in anderen Teilen Europas spielt das Wetter verrückt. In Tschechien waren aufgrund schwerer Unwetter 145 000 Haushalte von Stromausfällen betroffen, eine Woche zuvor starben sechs Menschen, als Tornados eine Schneise der Verwüstung anrichteten. Rund 1200 Häuser wurden beschädigt, von denen mindestens 115 komplett abgerissen werden müssen.
Die Frage, die sich viele Menschen in Zeiten des Klimawandels nun stellen, lautet: Ist Extremwetter wie dieses das neue Normal? Müssen sich Menschen, Länder und Kommunen darauf einstellen, dass sich solche Wetterlagen häufen?
„Im Moment stehen wir unter dem Einfluss sehr warmer, subtropischer, auch feuchter Luft“, erklärt Florian Imbery im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Ein, zwei Tage lokalen Starkniederschlags seien da nicht weiter ungewöhnlich, so der Klimaforscher des Deutschen Wetterdienstes (DWD). Ähnlich äußert sich sein Kollege Uwe Schickedanz, der zu Bedenken gibt, dass die vergangenen Jahre trotz des Klimawandels eher gewitterarm gewesen seien. Dennoch: Die jüngsten Geschehnisse passten in das Bild, das Klimaforscher zeichnen, mit sommerlicher Abwechslung zwischen Dürre und Starkregen-Ereignissen, so Schickedanz.
Während die Meteorologen bei Regenereignissen zögern, Wetterphänomene direkt mit dem Klimawandel in Verbindung zu bringen, haben sie bei den Hitzewellen ihre Zurückhaltung aufgegeben. „Ohne den menschengemachten Klimawandel wäre es fast unmöglich, solche rekordverdächtigen mittleren Juni-Temperaturen im Westen der USA zu erreichen“, heißt es bei der Meteorologiebehörde Großbritanniens. Auf natürliche Weise kämen solche Temperaturen nur einmal in Zehntausenden von Jahren vor. Bezüglich der kanadischen Extremhitze twittert der Londoner Wetterexperte Scott Duncan: „Ich hätte es nicht für möglich gehalten, jedenfalls nicht zu meinen Lebzeiten.“Solche Ausmaße hat der Klimawandel in Deutschland noch nicht erreicht.
Allerdings haben Hitzewellen auch hierzulande stark zugenommen, sagt Imbery. „Im Vergleich zu den 1950er-Jahren hat sich die Zahl der Tage, an denen die Lufttemperatur 30 Grad oder mehr beträgt, in den letzten Jahren verdreifacht.“Dem gegenüber stehen die Eistage, an denen die Temperatur nicht über null Grad hinausgeht. Die hätten stark abgenommen. In Baden-Württemberg stiegen die Jahresmitteltemperaturen nach Angaben der Landesanstalt für Umwelt seit Beginn der Aufzeichnungen 1881 bis 2020 um 1,5 Grad Celsius. 16 der vergangenen 20 Jahre gehörten zu den wärmsten seit Aufzeichnung der Daten.
Das bleibt nicht ohne Folgen für die Gesundheit der Menschen. So gibt es in Deutschland seit einigen Jahren eine mit der Sommerhitze zusammenhängende Übersterblichkeit. „Alleine im vergangenen August waren es nach Schätzungen über 4000 Menschen, die wohl wegen der Hitze gestorben sind“, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vor Kurzem und forderte die Bundesländer auf, sich hierauf besser einzustellen, etwa durch Umbauten von Krankenhäusern und Pflegeheimen.
Denn die Temperaturen werden auch in Zukunft weiter steigen. Momentan lassen sich die Folgen eines globalen Temperaturanstiegs um 1,2 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit beobachten, in Deutschland sind es sogar 1,6 Grad. Laut dem Umweltbundesamt steigt die Durchschnittstemperatur alle zehn Jahre um 0,2 Grad. Im Südwesten könnte die Durchschnittstemperatur in den Jahren 2071 bis 2100 um drei bis 4,5 Grad Celsius im Vergleich zum Zeitraum 1971 bis 2000 steigen. Zwar hat die Staatengemeinschaft sich im Pariser Klimaabkommen vorgenommen, die Erderwärmung bis Ende des Jahrhunderts auf 1,5 bis zwei Grad zu begrenzen. Dazu müssten die Anstrengungen weltweit allerdings massiv erhöht werden.
Würden alle Länder lediglich ihre aktuellen Klimaversprechen einhalten, werde die Erderwärmung im Jahr 2100 laut Berechnungen des „Climate Action Trackers“nur 2,4 Grad betragen. Ohne Klimapolitik, also eine globale Energiewende, wären sogar mehr als fünf Grad möglich. Die Folgen davon können sich noch nicht mal die Einwohner von Lytton vorstellen.