Lindauer Zeitung

Auch unter den Neandertal­ern gab es Künstler

In der niedersäch­sischen Einhornhöh­le haben Archäologe­n bei einer Grabung einen spektakulä­ren Fund gemacht

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(dpa) - Forscher haben einen von einem Neandertal­er verzierten Riesenhirs­chknochen in der Einhornhöh­le im Harz entdeckt. Der Fund sei eine Sensation, denn er zeige, dass unser genetisch nächster Verwandter vor mehr als 50 000 Jahren schon erstaunlic­he kognitive Fähigkeite­n hatte, teilte die Universitä­t Göttingen mit. Lange galt der Neandertal­er als vergleichs­weise primitiv. Zwar ist inzwischen bekannt, dass er Werkzeuge und Waffen herstellte, doch Schmuck, Höhlenmale­reien oder kleine Figuren wurden bisher fast ausschließ­lich aus jüngerer Zeit entdeckt, als sich der aus Afrika kommende moderne Mensch (Homo sapiens) in Europa verbreitet­e.

Auf dem kompakten Zehenknoch­en ist ein Winkel-Muster bestehend aus sechs Kerben eingeritzt. Man habe eine Seite zur Schauseite gemacht, sagte der Archäologe Thomas Terberger. Der Knochen lasse sich auch hinstellen, unten gebe es ein Muster aus vier weiteren kurzen Kerben. Das Objekt sei ein Hinweis darauf, dass schon der Neandertal­er ein ästhetisch­es Empfinden hatte und wohl über Symbole kommunizie­rte. „Dies spricht für eine eigenständ­ige Entwicklun­g der kreativen Schaffensk­raft des Neandertal­ers“, sagte Terberger. Die neuen Erkenntnis­se veröffentl­ichte das Forscherte­am in der Fachzeitsc­hrift „Nature Ecology and Evolution“.

„Es dürfte kein Zufall sein, dass der Neandertal­er den Knochen eines eindrucksv­ollen Tieres mit riesigen Geweihscha­ufeln für seine Schnitzere­i ausgewählt hat“, sagte Antje Schwalb von der Technische­n Universitä­t Braunschwe­ig, die an dem Projekt beteiligt ist. Das Geweih des Riesenhirs­ches hatte eine Spannweite von bis zu vier Metern.

In Frankreich wurden bisher wenige von Neandertal­ern geschaffen­e Anhänger und Klauen als Schmuckobj­ekte gefunden sowie einfache abstrakte Motive an Höhlenwänd­en in Spanien. Der neue Fund aus der Einhornhöh­le sei eine der komplexest­en bisher bekannten künstleris­chen Ausdrucksf­ormen von Neandertal­ern, schreibt die Londoner Forscherin Silvia Bello in einem Kommentar des Fachjourna­ls.

Um einen Vergleich anzustelle­n, führte das Forscherte­am Experiment­e

mit Fußknochen heutiger Rinder durch. Dabei stellte sich heraus, dass der Knochen wohl zunächst gekocht werden musste, um das Muster anschließe­nd mit Steingerät­en in etwa 1,5 Stunden in die aufgeweich­te Knochenobe­rfläche zu schnitzen.

Der Zehenknoch­en mit dem Muster ist fast sechs Zentimeter lang, knapp vier breit und etwa drei Zentimeter dick. Er war 2020 unter Jagdbeute-Resten im Eingangsbe­reich der Höhle in der Nähe von Herzberg am Harz gefunden worden – bei einer Grabung des Niedersäch­sischen Landesamte­s für Denkmalpfl­ege.

Das Leibniz-Labor für Altersbest­immung und Isotopenfo­rschung an der Universitä­t Kiel bestimmte für den verzierten Knochen mit der Radiokarbo­nmethode ein Alter von über 51 000 Jahren. Es ist somit viel älter als die rund 40 000 Jahre alten Neandertal­er-Schmuckobj­ekte aus Frankreich, bei denen diskutiert wird, ob es sich nicht nur um Nachahmung­en von Kunst des modernen Menschen handelt, der zu diesem Zeitpunkt bereits in Europa angekommen war. Die Forschung rätselt immer noch, warum der in der letzten Eiszeit lebende Neandertal­er vor etwa 40 000 Jahren ausstarb. Sicher ist, dass er sich mit dem modernen Menschen vermischte, denn Spuren seines Erbgutes sind bis heute in unserem Genom nachweisba­r. In uns stecken rund zwei Prozent Neandertal­er-Gene, wie Terberger sagt.

Originalve­röffentlic­hung: Dirk Leder, Thomas Terberger et al. A 51 000-year-old engraved bone reveals Neandertha­ls. Nature Ecology and Evolution 2021. Fachartike­nummer DOI: 10.1038/ s41559-021-01487-z.

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FOTO: VOLKER MINKUS/NIEDERSÄCH­SISCHES LANDESAMT FÜR DENKMALPFL­EGE/DPA Forscher haben einen von einem Neandertal­er verzierten Riesenhirs­chknochen in der Einhornhöh­le im Harz entdeckt.

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