Sonnenstrom für alle
Das Land Baden-Württemberg plant, was die Stadt Waiblingen seit 2006 umsetzt: eine Solardachpflicht bei Neubauten und grundlegenden Sanierungen
Von Kara Ballarin
- Die Wolken hängen tief. Bevor der Regen kommt, mäht Martin Vogel noch schnell das Stückchen Rasen vor seinem Haus im Neubaugebiet Berg-Bürg, das zum Waiblinger Ortsteil Bittenfeld gehört. Viel Strom produziert seine Photovoltaikanlage auf dem Dach gerade nicht. „Es hat mich verwundert, wie wenig Ertrag man im Winter und an so grauen Tagen hat“, sagt der junge Familienvater mit dem Dreitagebart. Eine Wahl hatte er aber nicht: Wer in Waiblingen einen neuen Bauplatz kauft, muss auf sein Haus ein Solardach packen – egal, ob Gewerbegebäude oder Wohnhaus. Das Land BadenWürttemberg will dem bundesweiten Vorbild Waiblingens ab 2022 folgen.
Ein Zauberwort, das dieser Tage deutschlandweit die Runde macht, ist die Solardachpflicht. In Berlin und Hamburg greift sie ab 2023, Schleswig-Holstein will bald nachziehen. Auch die schwarz-rote Bundesregierung hatte für ihr milliardenschweres Klimaschutz-Sofortprogramm von Ende Juni mit einer bundesweiten Solardachpflicht geliebäugelt – und sie dann doch nicht aufgenommen.
Baden-Württemberg ist im vergangenen Oktober zunächst halbherzig vorgeprescht. Im Landesklimaschutzgesetz beschloss die auch damals grün-schwarze Regierungskoalition eine Solardachpflicht für neue Gewerbegebäude und für Parkplätze mit mehr als 75 Plätzen schon ab 2022. Dass Wohnhäuser außen vor blieben, hatte die CDU durchgeboxt. Eine Landtagswahl später sind die Stuttgarter Regierungspartner zwar immer noch grün-schwarz, die Kräfteverhältnisse haben sich aber zugunsten der Grünen verschoben. Jetzt soll die Solardachpflicht für Wohngebäude und bei grundlegenden Dachsanierungen nachgeschoben werden. Einen entsprechenden Gesetzentwurf aus dem Umweltministerium sollen die Fraktionen von Grünen und CDU kommende Woche im Landtag einbringen und eine Woche später im Plenum beraten. Läuft alles nach Plan, soll diese erneute Reform des Klimaschutzgesetzes im Oktober vom Landtag beschlossen werden, damit sie zum Jahreswechsel greifen kann. Was genau mit „grundlegender Dachsanierung“gemeint ist, wann die Pflicht hier greift, bleibt offen.
Auf jeden Neubau eine Solaranlage – kann das funktionieren? Ja, sagt Andreas Hesky. Waiblingens Oberbürgermeister, der der FreienWähler-Vereinigung, nicht aber der gleichnamigen Partei angehört, hat im ersten Jahr nach Amtsantritt 2006 die Solardachpflicht eingeführt. „Die PV-Pflicht ist für mich ein Schlüssel, um den Klimawandel zu stoppen“, sagt er. So geht die Stadt vor: Neubaugebiete gibt es nur dann, wenn alle Flächen in städtischer Hand sind. „Waiblinger Baulandmodell“heißt das hier. Durch die privatrechtlichen Kaufverträge trägt die Stadt den künftigen Bauherren dann auf, mindestens die Hälfte ihres Daches mit einer Photovoltaikanlage zur Stromerzeugung zu versehen, oder mit Solarthermie-Panels, die Wärme erzeugen. Legitimiert sei dieses Vorgehen durch den Stadtentwicklungsplan, erklärt Hesky. Die Bilanz lässt sich sehen: 20 neue Baugebiete hat die Stadt inzwischen ausgewiesen, 630 Solaranlagen sind entstanden. Laut Stadt werden dadurch rund 2000 Tonnen CO2 pro Jahr eingespart. „Es ist schön, hier entlangzulaufen“, sagt Hesky beim Spaziergang durch das Neubaugebiet Berg-Bürg, für das nicht nur eine Solardachpflicht gilt, sondern das insgesamt CO2-neutral geplant ist. „Ein gutes Gefühl.“Ärger mit Grundstückskäufern habe es wegen der Solardachpflicht bislang nie gegeben. „Für die Menschen ist vor allem eins wichtig: dass sie ein Grundstück bekommen“, sagt Hesky.
„Grundsätzlich finde ich es richtig“, sagt auch Sven Stahl zur Solardachpflicht. „Wie sollen wir es sonst hinbekommen, dass wir in Deutschland die Energie, die wir brauchen, auch produzieren?“Der Zimmermann hat seinen Betrieb seit 1999 in Bittenfeld, seit eineinhalb Jahren wohnt der 34-Jährige mit seiner Frau und inzwischen zwei Kindern im Neubaugebiet Berg-Bürg. Stahl schätzt die Gemeinschaft in diesem Viertel, in dem viele junge Familien leben. Eine schöne Gemeinschaft sei das. Und erst die Lage: auf einem Hügel, umgeben von Natur – die Straße trage den Namen „Im Feldblick“zu Recht. Stahl gibt aber zu bedenken: „Man sollte den Käufern etwas mehr Freiheiten geben. Vielleicht könnte man sagen, dass sie fünf Jahre Zeit haben, die Anlagen aufs Dach zu bauen. Es ist ja oft so, dass Häuslebauern hintenraus das Geld ausgeht. Als Zimmermann bekomme ich das oft mit.“Oberbürgermeister Hesky lässt dieses Argument nicht gelten. Für alles sei Geld da, etwa für extravagante Einbauküchen, aber nicht für Solarpanels? Dennoch grübele er gerade über eine Art Darlehen, das die Stadt den Bauherren für die Solardächer gewähren könnte.
Waiblingen war wohl bundesweit die erste Stadt mit einer Solardachpflicht, viele andere sind inzwischen gefolgt – darunter Tübingen. Die Entwicklung des alten Güterbahnhofs zum Baugebiet nutzte die Stadt als Versuchsfeld. 2015 kam es dann zum Schwur. „Als der städtebauliche Vertrag fertig war, hatte ich noch die Idee gehabt, in die Kaufverträge reinzuschreiben, dass Solaranlagen auf den Dächern Pflicht sind“, erinnert sich Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne). Die Grundstücke gingen problemlos weg. „Wir haben bemerkt, es funktioniert“, sagt Palmer. Die Käufer hatten die Wahl zwischen PV- und Solarthermie-Anlagen – und auch, ob sie die Panels selbst installieren und nutzen wollen, oder ob sie ihre Dachflächen den Stadtwerken zur Verfügung stellen. „Mit diesen Erfahrungen habe ich dem Gemeinderat gesagt, ich hätte gern einen Grundsatzbeschluss“, so Palmer. Den hat er – bei einiger Gegenwehr – 2018 bekommen. „Seitdem gilt in Tübingen: Immer wenn neues Baurecht entsteht, gibt es eine Solarpflicht“, so Palmer. Wie Waiblingen regelt das auch Tübingen vorzugsweise über die Kaufverträge.
Für die Tübinger Stadtwerke als Stromnetzbetreiber bedeutet der Solarboom deutlich mehr Aufwand, erklärt ein Sprecher. Mehr Prüfungen, mehr Berechnungen, zum Teil musste das Netz ausgebaut und verstärkt werden. Die Stadtwerke rechnen mit weiter steigendem Aufwand, wenn neue Quartiere hinzukommen – und auf jedem Dach eine PV-Anlage montiert ist. Künftig müssten gerade bei Neubaugebieten stets zwei Szenarien mitgedacht werden: Das ganze Viertel produziert gerade Strom, weil die Sonne scheint, oder braucht Strom aus dem Netz, weil sie eben nicht scheint. Trotz des Aufwands sagt der Sprecher: „Die Stadtwerke Tübingen haben bislang gemeinsam mit ihren Kunden jede PV-Anlage mit positivem Bescheid durch die Netzprüfung bekommen und anschließend errichtet. Das ist ein positives Zwischenfazit und zeigt, dass die für den Klimaschutz wichtige Maßnahme greift und gut durchführbar ist.“
Dass die Netze noch nicht überall für den bevorstehenden Solarboom ausgelegt sind, „insbesondere in ländlichen Regionen“, weiß auch Umweltministerin Thekla Walker (Grüne), wie ihr Sprecher einräumt. „Sollte sich im Einzelfall herausstellen, dass eine PV-Anlage aufgrund mangelnder Netzkapazitäten nicht an das öffentliche Stromnetz angeschlossen werden kann, wird die PV-Pflicht entfallen“, erklärt er.
Nicht jeder ist begeistert vom Zwang. Der Eigentümerverband Haus und Grund stellt sich klar gegen eine Pflicht und spricht von einem „unkoordinierten Schnellschuss“, der Bauen und Wohnen dramatisch verteuere. Auch der baden-württembergische Gemeindetag
als Vertreter kleinerer Kommunen gibt zu bedenken: „Die Umsetzung von mehr Klimaschutz bedeutet zugleich, dass die finanziellen Belastungen für die Bürger zunehmen.“Die Solardachpflicht könne zwar ein guter Ansatz im Sinne des Klimaschutzes sein. Aber, so ein Sprecher: „Es darf keine Verzögerung bei Neubauten oder Dachsanierungen geben, weil der Markt bei den Solaranlagen nicht mehr hinterherkommt.“
Thomas Möller erteilt letzterer Warnung eine Absage. „Wenn man eine Idee hat, von der man ausgeht, dass sie richtig ist, und ich halte diese Idee für richtig, darf sie nicht daran scheitern, dass man fragt, ist das überhaupt umsetzbar“, sagt der Hauptgeschäftsführer der Bauwirtschaft Baden-Württemberg. Vielleicht komme es punktuell zu Engpässen, an ein Scheitern der Solardachpflicht glaube er aber nicht. Er fordert: „Man muss immer den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes beachten.“
Markus Müller, Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg (AKBW), stimmt ihm zu. „Die Solarpflicht ist sinnvoll, weil nur so ausreichend regenerative Energie erzeugt werden kann, um fossile Energieträger ersetzen und Gebäude klimaneutral beheizen zu können. Ein Freiwilligkeitsprinzip genügt nicht“, sagt Müller. „Aber die Frage stellt sich, ob die Kosten für Photovoltaik allein vom Investor getragen werden sollen.“
Zurück also zur Kostenfrage. Gerechnet wird hier in Euro pro Leistung, die in Kilowatt-Peak (kWp) angegeben wird. Grob gesagt lässt sich mit einer Anlage mit einem kWp rund 1000 Kilowattstunden Solarstrom pro Jahr erzeugen, wofür etwa sieben bis zehn Quadratmeter Dachfläche benötigt werden. Eine vierköpfige Familie braucht laut Branchenkennern die vier- bis fünffache Leistung und entsprechend mehr Platz auf dem Dach. Laut Umweltministerium belaufen sich die Investitionen auf 1200 Euro pro kWp. AKBW-Präsident Müller spricht aus Erfahrung von höheren Gesamtkosten und rechnet eher mit 2000 Euro pro kWp. „Die AKBW plädiert deshalb für eine öffentliche Förderung als Flankierung der PV-Pflicht.“
Mehr Förderung und Anreize statt Pflicht, das wünscht sich auch Martin Vogel – gerne auch weniger Bürokratie und eine bessere Vergütung, wenn er den Strom, den sein Hausdach im Neubaugebiet Berg-Bürg produziert, ins Netz einspeist. „Wir bekommen neun Cent fürs Einspeisen, müssen aber 30 Cent zahlen, wenn wir Strom aus dem Netz brauchen.“Die Solardachpflicht in Waiblingen hat ihn aber nicht geschreckt. „Das mit der PV-Anlage hätte ich wahrscheinlich eh gemacht“, sagt er. Schließlich zahle sich die Anlage von alleine ab. „Es wäre aber für alle gut, wenn sich das Ding nicht erst nach 20 Jahren amortisiert.“Der Familienvater, der wegen seines vierjährigen Sohnes raus aus Stuttgart gezogen ist, hat noch einen Wunsch: bezahlbare, rentable Stromspeicher, um die am Tag erzeugte Energie in der Nacht nutzen zu können.
Auf Speicher hoffen auch die Stadtwerke Tübingen „zur Aufnahme des PV-Überschusses und Bereitstellung in den Zeiten ohne PV“, so der Sprecher. Rentable Speicher sind aktuell aber noch Zukunftsmusik. Und so sagt Oberbürgermeister Palmer: „Dieses Thema haben wir in die 30er-Jahre verlagert. Bevor man Strom speichern kann, muss man ihn erst mal haben.“Einen Stromüberschuss gebe es deutschlandweit bislang nur an 100 Stunden im Jahr.
Für Palmer geht das Land mit seinen Solarpflicht-Plänen nicht weit genug: Er wünscht sich eine Pflicht für alle geeigneten Bestandsgebäude. „Wir würden gerne wieder die Pionierrolle übernehmen und schauen, ob es funktioniert“, sagt er und fordert vom
Land: „Wir brauchen nicht mehr Geld, sondern Kompetenzen.“Palmer schwebt Tübingen als Klimaschutz-Modellkommune vor, die in den kommenden zehn Jahren den erzeugten Solarstrom auf 200 Megawatt verzehnfacht. Dann wäre die Stadt, wie vom Gemeinderat beschlossen, im Jahr 2030 klimaneutral.
Palmers OberbürgermeisterKollege Andreas Hesky freut sich derweil über die geplante landesweite Solardachpflicht. Denn die örtliche Pflicht gilt in Waiblingen bis heute nicht für Baulücken im Ort. „Diese Grundstücke waren für uns bislang nicht erreichbar“, sagt er. Gibt das Land ab kommendem Jahr allerdings die Pflicht vor, ändert sich das.
Boris Palmer, Oberbürgermeister
von Tübingen
„Immer wenn neues Baurecht entsteht, gibt es
eine Solarpflicht.“
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