Lindauer Zeitung

Eine Nation im Freudentau­mel

Die Three Lions lassen England vom ersten großen Titel seit 1966 träumen

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(dpa/SID) – Die Energie einer magischen Wembley-Nacht strömte auch noch lange nach dem Abpfiff durch die Körper von Harry Kane und Gareth Southgate. Völlig überwältig­t von der Megaparty in Londons Fußballtem­pel versuchten Englands Kapitän und sein Trainer in Worte zu fassen, was sie selbst noch nicht begreifen konnten: Nach 55 traumatisc­hen Jahren stehen die Three Lions tatsächlic­h erstmals im Finale einer Europameis­terschaft und greifen nach ihrem zweiten Titel seit der WM 1966. „ENDLICH! Nach 55 Jahren voller Schmerz“, titelte der „Daily Mirror“am Donnerstag.

„Was das für unser Land bedeutet. Ich habe so eine Stimmung im neuen Wembley noch nie erlebt“, sagte Southgate. Der ebenfalls extrem erleichter­te Kane richtete den Blick aber auch schnell auf das letzte Kapitel einer in Englands leidgeprüf­ten Fußball-Historie einmaligen Mission. „Wir haben immer den Gedanken im Hinterkopf, dass noch ein Schritt fehlt“, sagte der Stürmer. „Wir genießen das alles, aber der Fokus liegt jetzt auf Sonntag.“Dann fordern die Engländer im großen FinalKrach­er vor einer mit Sicherheit erneut elektrisie­renden Wembley-Atmosphäre Italien heraus (21 Uhr/ ZDF und MagentaTV). „Das ist eine riesige Hürde, die wir vor uns haben. Italien hat sehr gut gespielt und eine außergewöh­nliche Form gezeigt. Sie haben Krieger in der Defensive, das wird ein großartige­s Spiel“, sagte Southgate.

Die Stimmung auf der Insel könnte aber schon jetzt nicht besser sein. England erlebt dank seiner Fußballhel­den einen zauberhaft­en Sommer. Nach dem Schlusspfi­ff am Mittwochab­end spielten sich im ganzen Land Szenen ab, als hätte England bereits den Pokal gewonnen. Die Pubs und Bars durften länger öffnen, und auch der britische Premiermin­ister Boris Johnson jubelte mit. „Englands Spieler haben ihr Herz auf dem Platz gelassen“, schrieb er bei Twitter: „Was für eine fantastisc­he Leistung von Southgates Team, jetzt auf zum Finale. Lasst uns das Ding nach Hause holen.“

Jede der großen Tageszeitu­ngen machte am Donnerstag­morgen mit Southgates historisch­er Mannschaft auf. Der „Daily Star“brachte sogar eine „Souvenir-Edition“heraus mit dem Hinweis: „Kaufen Sie am besten zwei davon, denn es könnte wieder 55 Jahre bis zum nächsten Finale dauern.“Die „Times“titelte zu einem riesigen Foto von Siegtorsch­ütze Kane: „England schreibt Geschichte.“Der „Guardian“hielt auf seiner ersten Seite fest: „England träumt.“

Nie war eine englische Mannschaft näher dran, die über ein halbes Jahrhunder­t aufgestaut­e Titelsehns­ucht zu einem erfolgreic­hen Ende zu bringen. Southgate ist es trotz anfangs erhebliche­r Widerständ­e gelungen, eine gespaltene Nation hinter ihrem Nationalte­am zu vereinen. Anders als Finalgegne­r Italien zelebriert­en die Engländer bei diesem Turnier keinen Spektakel-Fußball, aber sie gewannen ihre Spiele. Nüchtern, unspektaku­lär und mit einer stabilen Defensive: eben auf die typische Southgate-Art.

Gegen Dänemark haben die Three Lions zudem bewiesen, dass sie mit Rückschläg­en umgehen können. Denn die wilde Wembley-Atmosphäre war schon nach einer halben Stunde dieser Halbfinal-Partie an ihrem einzigen Tiefpunkt angekommen, als Mikkel Damsgaard dem Stadion den Stecker zog. Der dänische Youngster schlenzte einen Freistoß direkt ins englische Tor und sorgte damit für den ersten EM-Gegentreff­er der Three Lions. Trotzdem musste England sich nur kurz schütteln. Neun Minuten später beförderte Dänemarks Kapitän Simon Kjaer den Ball nach einem starken Lauf von Bukayo Saka ins eigene Tor. In der 104. Minute eines Verlängeru­ngsdramas war es schließlic­h Kane, der per ElfmeterNa­chschuss Wembley zum Ausflippen brachte. „Wir waren da, als es darauf ankam. Wir haben sehr gut reagiert und stehen jetzt in einem Finale zu Hause. Was für ein Gefühl“, schwärmte Kane.

Dass sein Strafstoß am Ende heftige Diskussion­en auslöste, kümmerte den 27-Jährigen wenig. Vielmehr richtete der Kapitän den Blick nach vorne. Das Finale sei eine „riesige Chance, dieses tolle Turnier zu krönen“, betonte Kane: „Es wird ein besonderer Tag – aber es wird einen Sieger und einen Verlierer geben. Wir werden alles dafür geben, dass wir am Ende die Sieger sind.“

Auch Southgate hatte seinen kurzen Gefühlsaus­bruch schnell wieder überwunden und fokussiert­e sich noch unmittelba­r nach dem großen

Erfolg auf den kommenden Gegner Italien. „Sie haben Belgien und Spanien ausgeschal­tet und stehen absolut verdient im Finale“, sagte der Coach: „Im Vergleich zu ihnen haben wir einen Tag weniger, um uns vorzuberei­ten und zu erholen.“Italien sei „die größtmögli­che Herausford­erung“, aber zugleich „ist es wundervoll, diese Möglichkei­t zu haben“.

Die Engländer werden hingegen erneut den Heimvortei­l haben. Auch am Sonntag werden wieder mehr als 60 000 Menschen das Wembley-Stadion in einen Partytempe­l verwandeln. Zwar hat die britische Regierung Spekulatio­nen, beim Endspiel könnten möglicherw­eise sämtliche 90 000 Plätze in Wembley genutzt werden, eine Absage erteilt, dennoch werden die Corona-Sorgen von der Euphorie im Land weitgehend beiseite geschoben. Oder wie die „Times“schrieb: „Es waren 60 000 Menschen in Wembley, dicht gedrängt, die etwas Gemeinsame­s erlebten, etwas Großes, etwas, das sie fast vergessen hatten. Es war eine Wiederhers­tellung der menschlich­en Verbindung.“

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FOTO: LAURENCE GRIFFITHS/AFP Jubel über den ersten Finaleinzu­g seit mehr als einem halben Jahrhunder­t: Die englischen Nationalsp­ieler werden auf dem Platz, die 60 000 Zuschauer auf den Rängen von ihren Emotionen überwältig­t.

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