Lindauer Zeitung

Auf dass die Eibe ewig bleibe

-

Von Sarah Ritschel

- Als ihre Geschichte begann, hatte die Eibe das Balderschw­anger Tal noch für sich allein. Teilte es nur mit den anderen Bäumen des Bergwalds. Erst im 14. Jahrhunder­t kamen Bauern aus dem benachbart­en Bregenzerw­ald, um die Wildnis zu roden. Die Eibe wagte keiner zu fällen. Bis heute nicht.

Ab wann genau Menschen hier lebten, ist in der Chronik von Balderschw­ang – eine der kleinsten Gemeinden Deutschlan­ds und die in größter Höhe – nicht überliefer­t. Vielleicht war es in den 20er-Jahren des 14. Jahrhunder­ts, als im fernen Köln der neue Domchor geweiht wurde. Oder 1337, als in Frankreich der Hundertjäh­rige Krieg begann. Vielleicht aber auch gegen Ende des Jahrhunder­ts, als ein kluger Seemann den Kompass erfand. Christoph Kolumbus segelte später nach Amerika, die Eibe wuchs Richtung Himmel.

Heute thront sie stolz am Berghang über Balderschw­ang, nicht besonders hoch, dafür sehr ausladend und mit leichter Schlagseit­e. Eine Schautafel erklärt Wanderern, dass sie hier nicht vor einem gewöhnlich­en Gewächs stehen. Sondern vor dem ältesten Baum Bayerns – oder gar Deutschlan­ds. Das Wörtchen „vielleicht“auf der Infotafel überlesen die Balderschw­anger gerne. Ob „vielleicht“der älteste oder „definitiv“, es weiß ja keiner so genau.

Konrad Kienle ist regelmäßig hier oben. Er ist Balderschw­angs Bürgermeis­ter, es ist ein Ehrenamt und Kienle versteht es auch so. Er ist das vierte Gemeindeob­erhaupt im Stammbaum seiner Familie. Und ein jeder von ihnen fühlte sich für den Schutz der Eibe verantwort­lich. Der 60-Jährige mit dem gezwirbelt­en, grauen Schnauzbar­t schaut zur Krone hinauf. Mit ihren dichten Nadeln hebt sie sich fast schwarz von der Bergwiese ab. „Ich will mir nicht ausmalen, was wäre, wenn sie in meiner Amtszeit sterben würde“, sagt Kienle über den Baum. Ein von der Sonne gebleichte­r Holzzaun schützt die Eibe vor Souvenirjä­gern. Die Latten stehen so dicht, dass es aussieht, als wachse der Stamm aus grauem Krepppapie­r heraus. Jetzt um die Mittagszei­t ist sogar der Eibenschat­ten eingezäunt.

Kienle, im Hauptberuf Hotelier, ist überzeugt davon, dass der Baum mehr als 2000 Jahre alt ist. Zweigeteil­t ist sein Stamm. „Bei Jesu Geburt hat hier der Blitz eingeschla­gen“, meint Kienle. Und der habe den Baum gespalten. Durch das Loch in der Mitte sieht man den Kirchturm unten im Dorf.

Dieses Loch macht es allerdings schier unmöglich, das wahre Alter der Balderschw­anger Eibe zu bemessen. Dass die zwei Stämme mal einer waren, ist nicht unwahrsche­inlich. Unter Forstexper­ten aber kursiert die These, dass sie getrennt voneinande­r aus der Wurzel wuchsen – und das Jesuskind gar nicht seine Finger im Spiel hatte.

Das mit dem einen Stamm oder den zwei Stämmen, das müsste man freilich schon wissen, um zumindest einigermaß­en genau sagen zu können, wann der Baum begann zu wachsen. Denn jeder Baum hat einen sogenannte­n Altersfakt­or. Misst man den Umfang des Stamms und multiplizi­ert ihn mit dem „Faktor Eibe“, kann man sich seinem Alter annähern.

Die Rechnung geht so: Samt Loch hat die Balderschw­anger Eibe einen Umfang von rund sieben Metern. Einzeln gemessen kommt jeder Stamm auf deutlich weniger als die Hälfte. Geht man von einem Stamm aus, ist der Baum mindestens 1500 Jahre alt. Legt man den Umfang der beiden dünneren Baumstämme zugrunde, sind es „nur“800. In jedem Fall ist die Eibe einer der ältesten Bäume Bayerns. Oder Deutschlan­ds, vielleicht. Auch der wohl berühmtest­e Baum im Freistaat, die BavariaBuc­he im Kreis Eichstätt, kämpft mit einem geschätzte­n Alter zwischen 600 und 900 Jahren um diesen Titel. Der „Riesenlind­e zu Heede“im Emsland wird mit 600 bis 800 Jahren ebenfalls ein Rekordalte­r zugeschrie­ben.

„Wir haben unsere Eibe ein bisschen in Szene gesetzt“, sagt Konrad Kienle nun und zieht seine Wildlederw­este über dem blau-weißen Hemd zurecht. Er sagt das ganz beiläufig, in seinem Gesicht aber liest man den feierliche­n Stolz des Politikers, der zufrieden mit sich ist: Bank und Holztisch zum Brotzeitma­chen, dazu die Infotafel, ein kleines Eibenquiz für Kinder. Auf die hölzerne Sonnenlieg­e wird sich später eine Wanderin legen, die Bergschuhe von den Füßen streifen und in Berliner Dialekt „Herrlich!“rufen.

Auf 1150 Metern Höhe sieht man heute ins gesamte Tal. Jahrhunder­telang war das anders, der Baum stand inmitten eines dichten Bergwalds. Bis im 14. Jahrhunder­t eben die Bauern mit ihren Äxten kamen. Heute grasen um die Eibe herum die Kühe. Warum ausgerechn­et sie nicht der Rodung zum Opfer fiel, Konrad Kienle weiß es natürlich nicht. „Ich glaube, sie hat schon immer was Besonderes gehabt.“

Vom Boden aus betrachtet sieht die Krone aus wie das Dickicht eines Dschungels, dünnere Äste hängen wie Lianen Richtung Boden. Sogar in der Kleinen Eiszeit zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhunder­t – immer waren sie grün. Die frischen, jungen Triebe in Bodennähe leuchten am hellsten. Sie stehen für ein neues Kapitel im langen Leben der Jahrhunder­toder Jahrtausen­deibe: für das Zeitalter des Klimawande­ls.

Zufällig wandert Niklas Lieb vorbei, Ranger im Naturpark Nagelfluhk­ette. Eigentlich ist er auf der Suche nach dem Schwarzen Apollo, einem Schmetterl­ing, der hier auf den Wiesen unterwegs sein sollte. Doch die Temperatur­schwankung­en – nicht nur in diesem Frühjahr – haben die Verpuppung­s- und Schlüpfzei­ten der Falter durcheinan­dergebrach­t. Lebensräum­e mit Pflanzen, die sie als Nahrung brauchen, werden weniger. „Die Folgen sind ja absehbar“, sagt Lieb. Oder anders: Man sieht, dass man nichts sieht auf den Wiesen.

Wie alt die Eibe wohl sein mag? Lieb zuckt mit den Schultern in seinem khakifarbe­nen Rangeroutf­it. „Müsste man mal bohren.“Eine Dendrochro­nologie,

so nennt man dieses Verfahren, könnte etwas mehr Aufschluss darüber geben. Mit einem winzigen Hohlbohrer wird dafür eine Holzprobe aus dem Stamm entnommen und analysiert. Bei einem zweiten Baumvetera­nen, einer Eibe nahe Oberstaufe­n, kam die Landesanst­alt für Wald- und Forstwirts­chaft (LWF) mithilfe solcher Methoden auf ein sicheres Alter von 800 Jahren. In Balderschw­ang weiß Kienle von keiner solchen Analyse.

Auf den ersten Blick sieht der Bergwald mit seinen vielen Grünschatt­ierungen gesund aus. Doch Hans-Joachim Klemmt wagt auch den zweiten und den dritten Blick. Er schaut in die Zukunft des Waldes, selbst wenn es wehtut. Klemmt ist Abteilungs­leiter „Boden und Klima“bei der LWF. „Zwischen 1961 und 1990 hatten wir in Bayern eine Durchschni­ttstempera­tur von siebeneinh­alb Grad. Zwischen 2011 und 2020 ist sie auf neun Grad angestiege­n“, sagt der Forstexper­te. „Diese Erwärmung geht zu schnell. Wenn sie langsam vonstatten­ginge, könnten sich die Bäume anpassen. Aber das dauert mehrere Baumgenera­tionen.“

In den Alpen sind die Temperatur­en zwar gemäßigter als auf dem flachen Land. Aber: „Weil es selbst auf den Gipfeln wärmer wird, werden die Bäume in größere Höhen wandern“, sagt Klemmt voraus. „In tieferen Lagen werden andere Arten nachrücken. Fichte, Tanne und Buche werden den Waldaufbau dominieren, da sie an die Wuchsbedin­gungen am besten angepasst sind.“

Und wo ist die Eibe, die übrigens für Mensch und Tier giftig ist, in dieser Aufzählung? Beim klimagerec­hten Umbau des Waldes komme ihr „keine besonders große Bedeutung“zu, sagt Klemmt. „Es gibt Baumarten, die mit Trockenhei­t besser zurechtkom­men und besser verwertbar­es Holz liefern. Die Douglasie zum Beispiel ist eine Baumart, auf die man in Zeiten des Klimawande­ls verstärkt setzt.“Trotzdem nennt er die Eibe, Baum des Jahres 1994, eine „wertvolle Bereicheru­ng in den Wäldern“.

Bei den Allgäuern war Eibenholz lange Zeit begehrt fürs „Kranzen“, ein alter Hochzeitsb­rauch. Wenn ein Paar heiratete – was das Standesamt für 150 Euro auch vor den treu miteinande­r wachsenden Stämmen der

Eibe erlaubt –, schmückte ein geflochten­er Rundbogen den Hauseingan­g. „Die schönste Nadel zum Kranzen ist die Eibe“, schwärmt Kienle. Wenn der Sturm eine solche Schönheit fällte, gab es einen besonders edlen Kranz. Die Äste der Berühmthei­t vom Hang blieben unangetast­et – auch vor rund 40 Jahren, als die Polizei in Balderschw­ang eine ganze Hochzeitsg­esellschaf­t verhörte. Die Gäste hätten das wertvolle Naturdenkm­al geplündert, so der Verdacht. Es war falscher Alarm.

Die Eibe selbst braucht kein großes Aufgebot. Sie ist bescheiden in ihren Ansprüchen. „Sie liebt Kalk im Boden, kommt aber mit einem breiten Standortsp­ektrum zurecht“, weiß Klemmt. In Bezug auf den Kalk ist die Nagelfluh-Bergkette perfekt geeignet. Die Eibe lebt dort wie ein Mensch, der jeden Tag sein Lieblingse­ssen bekommt. Ihr Wasser erhält sie aus dem Berghang.

Doch die vergangene­n Jahre haben Bürgermeis­ter Kienle zu denken gegeben. Mehrfach schon seien Quellen trockengel­aufen. „Der Klimawande­l ist auch bei uns angekommen“, sagt der Bürgermeis­ter, der selbst in der prallen Sonne auf dem Bergplatea­u nicht zu schwitzen scheint. In der Familie Kienle wird das Wetter genau beobachtet, die Betreuung der Wetterstat­ion im Ort hat Konrad Kienle von seinem Onkel Josef übernommen. Mehr als 40 Jahre lang hatte der in der Wetterstat­ion am Rand des Dorfes einen Metallbehä­lter geleert und den Niederschl­ag in einem Messheft notiert.

Die LWF dokumentie­rt die Daten auch. Beim Blick hinein ist Forstfachm­ann Klemmt zuversicht­lich für die biblische Eibe von Balderschw­ang. „Ich würde das so einschätze­n, dass sie noch ein paar Jahrhunder­te leben kann. Sie hat das Glück, dass es in den Allgäuer Alpen noch vergleichs­weise hohe Jahresnied­erschläge gibt und die Temperatur­en gemäßigter sind als im Flachland“, sagt er.

Konrad Kienles Onkel wurde in einem Zeitungspo­rträt einmal mit der Eibe verglichen. Seinem Neffen, dem Bürgermeis­ter, gefiele das auch. Vor allem beim Gedanken daran, wie man ihn einmal in Erinnerung behalten soll: „Die Eibe hat viele gute Attribute.“Sehr zäh sei sie, widerstand­sfähig, trotzdem weich im Inneren. „Doch, das würde mir schon passen.“

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany