Massenproteste auf Kuba
Tausende demonstrieren auf den Straßen und drängen die kommunistische Regierung in die Enge
- Es sind Bilder, die man aus Kuba sonst nicht kennt: umgestürzte Streifenwagen, Aggressionen gegen Polizisten, Wut, Protestmärsche und harte, öffentlich vorgetragene Kritik an der kommunistischen Regierung. Am Sonntag brach der gesammelte Frust aus der Bevölkerung raus, möglicherweise zentral organisiert und über soziale Medien multipliziert. Er begann in einem Randbezirk der Hauptstadt Havanna und dehnte sich dann offenbar über die gesamte Insel aus.
In San Antonio de los Baños, einem kleinen Vorort von Havanna, gingen am Vormittag scheinbar spontan Hunderte von Anwohnern auf die Straße und forderten ein Ende der Stromabschaltungen und verlangten Impfungen gegen die Coronapandemie. Aber die Menschen forderten nicht nur die Verbesserung ihrer Lebenssituation, sondern auch einen Wechsel: „Freiheit“und „Nieder mit der Diktatur“war während der Proteste zu hören. Ein Anwohner von San Antonio sagte: „Das hier ist für die Befreiung des Volkes, wir ertragen das nicht mehr. Wir haben keine Angst und wollen Veränderung“. Anscheinend hat die Bevölkerung die jahrzehntelange Furcht vor dem Repressionsapparat des Regimes verloren. Die Proteste vom Sonntag könnten der Auftakt zu einer Umsturzbewegung sein.
Auslöser war wohl der massive Anstieg der Infektionen und in der Folge der Todesfälle. Die Gesundheitsbehörden meldeten am Sonntag 7000 Neuansteckungen und 50 neue
Tote. Die Zahlen verdoppeln sich nahezu in diesen Tagen. Zudem leidet die Insel seit mehr als einem halben Jahr unter Energieknappheit, und es fehlen überall Nahrungsmittel. Die Wirtschaftskraft der Insel schrumpfte vergangenes Jahr um elf Prozent, so stark wie nie in den vergangenen 30 Jahren. Dazu trug der Einbruch des Tourismus und dadurch der Deviseneinnahmen durch die Pandemie bei sowie eine schwach ausgefallene Zuckerernte.
Der neue Präsident, Miguel DíazCanel, der seit April auch Chef der Kommunistischen Partei ist, erkannte die Dramatik der Proteste offenbar und trat umgehend live im Fernsehen auf und machte wie üblich die USA für die Ausschreitungen verantwortlich.
Die Proteste von San Antonio de los Baños wurden von Kubanern live im Netz übertragen und dehnten sich dann über die gesamte Insel aus. Nicht nur nach Havanna selbst, wo es sogar auf der berühmten Uferpromenade Malecón zu Protesten kam, sondern auch in kleinere Ortschaften im Zentrum und Osten des Landes. Durch den mittlerweile verbreiteten Zugang zum Internet sehen die Menschen, was andernorts auf der Insel passiert.
So tragen zu den jetzigen Demonstrationen, die sich möglicherweise zu einer langanhaltenden Protestwelle ausweiten, vier Faktoren entscheidend bei. Zum einen die Coronalage, zum anderen der nahezu wirtschaftliche Kollaps mit einer dramatischen Preissteigerung bei gleichzeitiger Verknappung wichtiger Waren wie Medikamente und Nahrungsmittel. Zudem die Verfügbarkeit von Internet auf weiten Teilen
Kubas. Auch der völlige Rückzug der Castros von der politischen Bühne könnte die Menschen dazu animieren, mehr Rechte und mehr Demokratie einzufordern. Auf dem Parteitag vor drei Monaten zog sich mit Raúl Castro der letzte Vertreter der Revolutionsgeneration von 1959 aus dem aktiven politischen Leben zurück.
Der wichtigste Punkt ist aber wohl die verspätete und überhastete wirtschaftliche Öffnung, die zu großen ökonomischen Verwerfungen geführt hat. Mit einem Vorlauf von nur wenigen Wochen hatte die Regierung zu Jahresbeginn die Doppelwährung abgeschafft und nach einem Vierteljahrhundert den konvertiblen, an den Dollar gekoppelten Peso CUC vom Markt genommen. Die Währungsreform stellt den umfassendsten Umbau der sozialistischen Wirtschaft seit der Revolution dar. Die meisten der unrentablen Staatsbetriebe, bei denen 70 Prozent der arbeitenden Kubaner angestellt sind, werden verschwinden, zudem Subventionen und Lebensmittelrationen perspektivisch abgeschafft.
Aber die Reform hat zu einem Preisschock, zu Hamsterkäufen, der Rationierung bestimmter Lebensmittel und vor allem stundenlangem Schlangestehen für praktisch jede Ware geführt, was für wachsenden Unmut in der Bevölkerung sorgt. Besser dran ist, wer Dollars hat. Die Währung des Klassenfeindes hilft, in den staatlichen Devisenläden einzukaufen. Dort gibt es, was es woanders für den CUP kaum noch gibt: Haushaltsgeräte, Lebensmittel und Hygieneartikel.