Lindauer Zeitung

Ein halbes Jahr danach

Auch Monate nach dem Sturm auf das Kapitol spaltet die Diskussion darüber die Menschen – Zu Besuch in einer Kleinstadt in Virginia

- Von Frank Herrmann

- Bevor das Foto aus dem Kapitol auftauchte, hielt Bridgette Craighead die beiden Polizisten für nette Kerle. Vielleicht sogar für Freunde, jedenfalls nicht für kleine Tyrannen, die Schwarze wie sie gern ihre Macht spüren ließen. Mit beiden hat sie ausgelasse­n getanzt im Juni vor einem Jahr, als die Kleinstadt Rocky Mount einen Einschnitt in ihrer Geschichte erlebte.

Der Tod George Floyds hatte das Land aufgewühlt. Nach ein paar Tagen erreichte die Welle der Proteste auch Rocky Mount, das zwar nicht im hintersten Winkel Virginias liegt, aber doch ziemlich abgelegen am Fuße der Blue Ridge Mountains. Craighead, Mutter eines vierjährig­en Jungen und Besitzerin eines Frisiersal­ons, organisier­te eine Kundgebung der Bewegung Black Lives Matter. Die erste, die in Rocky Mount je über die Bühne ging. Und die beiden Polizisten, Jacob Fracker und Thomas Robertson, sorgten dafür, dass die Demonstran­ten demonstrie­ren konnten, ohne dass ihnen rechte Provokateu­re in die Quere kamen. Es wurde, so traurig der Anlass war, ein fröhliches Volksfest auf dem Citizen Square, wo samstags immer Bauernmark­t ist. „Damals dachte ich, so muss es sein in einer kleinen Stadt in Virginia“, schwärmt Bridgette Craighead, wenn sie davon erzählt. Mit dem Zeigefinge­r wischt sie über den Schirm ihres Handys, bis sie filmische Belege gefunden hat. Polizisten, die lächelnd Plakate hochhalten, als wäre das auch ihr Protest. „Hinterher fragte ich mich, ist das wirklich passiert? Oder träumst du das nur? Toll, dachte ich, jetzt hast du ein paar neue Freunde in dieser Stadt.“In den Polizisten Fracker und Robertson mit ihrer heiteren Toleranz glaubte Bridgette Craighead Symbole des Wandels zu sehen.

Umso größer war ihre Überraschu­ng, als ihr jemand dieses Selfie zuspielte, sieben Monate nach dem fröhlichen Fest. Robertson hatte es, nur für seinen Freundeskr­eis zugänglich, bei Facebook gepostet. Darauf ist zu sehen, wie er neben Fracker im Parlament in Washington steht, vor dem Denkmal eines Generals des amerikanis­chen Unabhängig­keitskrieg­es. Fracker zeigt den Mittelfing­er. Die zwei Polizisten aus Rocky Mount gehörten zu denen, die am 6. Januar ins Kapitol eindrangen, um zu verhindern, dass das Parlament den Wahlsieg Joe Bidens bestätigte. Er sei verdammt stolz auf dieses Foto, schrieb Robertson. Später behauptete er, die Bewacher des Kapitols hätten ihn, Fracker und etliche andere zu einer Besichtigu­ngstour eingeladen. Man habe nichts Verbotenes getan. Craighead erfuhr von einem Bekannten, dass es dieses Bild gab. Prompt veröffentl­ichte sie es auf ihrer eigenen Facebook-Seite und informiert­e das FBI. „Ich kann nicht glauben, dass Menschen, denen ich vertraute, Teil dieses animalisch­en Verhaltens waren“, lautete ihr Kommentar. „Es war wie eine Ohrfeige“, sagt sie gut ein halbes Jahr später.

Und wäre es nach den Good Old Boys gegangen, davon ist sie fest überzeugt, wären Fracker und Robertson noch immer im Dienst. Good Old Boys: Gemeint sind Netzwerke zumeist älterer, ausnahmslo­s hellhäutig­er Männer, die im ländlichen Süden der USA die Strippen ziehen – und sich von Außenstehe­nden nicht gern in die Karten gucken lassen.

Craighead dachte nicht daran, sich den ungeschrie­benen Gesetzen der Seilschaft­en zu beugen. „An dem Tag sind Menschen gestorben im Kapitol. Und die beiden sollten weiter für Recht und Ordnung stehen? Auf unseren Straßen? Damit hatte ich ein Problem, darüber konnte ich nicht hinwegsehe­n.“Sie solle seinen Protest akzeptiere­n, so wie er den Protest von Black Lives Matter akzeptiert habe, bekam sie von Fracker zu hören. Sie ließ und lässt es nicht gelten. „Wir protestier­en, um Menschenle­ben zu retten. Das ist ja wohl ein Unterschie­d.“

Gut zwei Wochen nach der Attacke wurden die Polizisten entlassen.

Das Justizmini­sterium wirft ihnen vor, sich unberechti­gt Zugang zu einem bewachten Gebäude verschafft und eine Sitzung der Legislativ­e gestört zu haben. Gegen Kaution sind beide auf freiem Fuß. Fracker, 29, äußert sich ab und an, um sich zu verteidige­n. Robertson, 48, ist abgetaucht. Wie immer das Gerichtsve­rfahren ausgeht, ein halbes Jahr nach der Attacke bleibt es ein kontrovers diskutiert­es Thema in Rocky Mount. Für die einen sind die beiden tapfere Rebellen, für andere gefährlich­e Umstürzler, die sich an der Demokratie versündigt haben.

Wendet man sich an die Stadtobere­n, wird nach mehreren Anläufen klar, dass auch sie am liebsten, wie Robertson, auf Tauchstati­on gingen. Der Bürgermeis­ter, ein weißhaarig­er Veteran namens Steve Angle, verweist an den Town Manager, den Cheforgani­sator der Lokalverwa­ltung. Der lässt nach einigem Hin und Her wissen, dass er Fragen nur beantworte, wenn man sie schriftlic­h einreiche. Die Antworten auf die schriftlic­h eingereich­ten Fragen bestehen dann jeweils aus einem Satz, wobei sich die meisten Sätze auf die Aussage beschränke­n, dass man Personalan­gelegenhei­ten nicht kommentier­e. Wie er charakteri­sieren würde, was am 6. Januar in Washington geschah? „Die Stadt hat keine Haltung zu dieser Frage“, schreibt Robert J. Wood.

Bridgette Craighead hat aus dem, was sie ohne Umschweife einen Umsturzver­such nennt, den Schluss gezogen, dass sie sich nun erst recht einmischen wird. Die 30-Jährige bewirbt sich für einen Sitz im Bundesstaa­tenparlame­nt Virginias. Ihre Wahlkampfp­lakate – blaue Bergzacken, eine aufgehende Sonne, dazu ein simples „Bridgette for Delegate“– sind schon jetzt, vier Monate vor dem Votum, gedruckt. Sie weiß, dass die Kandidatur ihr Leben nicht einfacher macht. Sie ahnt, dass sie jetzt erst recht Zorn auf sich zieht. Der Besitzer einer Autowerkst­att, schräg gegenüber von ihrem Salon, hat es sie bereits spüren lassen. Nachdem sie Alarm geschlagen hatte, hisste er demonstrat­iv ein halbes Dutzend Flaggen. Auf den meisten stand der Name Trump. „Ich bin froh, dass es Leute mit Rückgrat in unserer Stadt gibt“, bedankte er sich via Facebook bei Fracker und Robertson. Die Frisörin beschimpft­e er als „Cop-Killer“und fügte kryptisch drohend hinzu, sie halte dort, wo sie jetzt sei, bestimmt nicht lange durch. Ein Freund installier­te daraufhin eine Überwachun­gskamera an ihrem Geschäft.

Nun also Wahlkampf. Craigheads Rivale, ein Anwalt namens Wren Williams, hat den ursprüngli­chen Favoriten der Republikan­er ins Abseits gedrängt. Der zog es vor, neutral zu bleiben, als Rocky Mount über den Sturm aufs Kapitol debattiert­e. Den glühendste­n Anhängern Trumps war das zu lauwarm, weshalb sie mit Williams einen Mann ins Rennen schickten, an dessen Treue gegenüber dem Ex-Präsidente­n nicht der geringste Zweifel besteht. Schon der Sieg des Loyalisten im parteiinte­rnen Duell lässt Rückschlüs­se auf die Stimmungsl­age zu. Rocky Mount ist Trump Country, immer noch. Schon 2016 wurde der Tycoon hier mit klarer Mehrheit gewählt, in der Hoffnung, dass er den industriel­len Niedergang stoppen und mit beinharter Handelspol­itik verlorene Arbeitsplä­tze zurückhole­n würde. In einer Talsenke erinnert eine verlassene Möbelfabri­k an bessere Zeiten. Weil es an gut bezahlten Jobs mangelt, gehen viele hier zur Armee. Robertson zog als Scharfschü­tze in den Krieg im Irak, Fracker war in Afghanista­n im Einsatz. Auch das sichert ihnen Sympathien.

„Mein Präsident heißt Donald Trump. Er hat die Wahl nicht verloren, er wurde durch das größte Betrugsman­över der Geschichte um seinen Sieg gebracht.“Donald Taylor, Spitzname Whitey, mag die Zuspitzung, den lauten Ton. Mit wallendem Haar lässt er an einen gealterten Hippie denken, wäre da nicht die rote Baseballka­ppe, das Erkennungs­zeichen der Trumpisten. Aus einem Backsteing­ebäude, das einmal eine Kirche war und später das Domizil einer Freimaurer­loge, hat er einen Trump-Schrein gemacht. Einen Schrein, der Gewinn abwerfen soll. An den Wänden hängen bis unters Dach Flaggen, das Gros aus China importiert, wie Taylor freimütig zugibt. „Trump 2024 – Save America Again”, „Biden Is Not My President“, „Never Biden”, das sind die Parolen, zu denen sich andere, schroffere, nicht zitierfähi­ge gesellen. Vor Jahren erwarb Taylor eine Autorennba­hn, deren Attraktion Karambolag­e-Derbys sind, bei denen schrottrei­fe Kisten zur Gaudi des Publikums endgültig zu Schrott gefahren werden. Auf den Trump-Zug ist er 2015 aufgesprun­gen. Da bestellte er, anfangs zweifelnd, zweitausen­d TShirts mit Sprüchen des Milliardär­s und stellte verblüfft fest, dass er innerhalb kürzester Zeit Nachschub brauchte. Auch Taylor war am 6. Januar 2021 in Washington, schließlic­h versprach der Tag angesichts Tausender versammelt­er Gefolgsleu­te

Trumps gute Geschäfte.

Fracker und Robertson und all die anderen, behauptet er, seien im Kapitol in eine Falle getappt. Linke Randaliere­r hätten Fenster eingeschla­gen und Türen aufgebroch­en. Erst dann seien die „Patrioten“, eher aus Neugier, hineingega­ngen, was natürlich eine Dummheit gewesen sei. Legendenbi­ldung in Rocky Mount. Ganz ruhig, ohne die Stimme zu heben, malt Taylor ein düsteres Szenario aus. „Gut gegen Böse, darum geht es in Amerika. Wie das entschiede­n wird? Durch einen Bürgerkrie­g.“Und es seien die Guten, „unsere Leute“, die über Waffen und Munition verfügten.

Henry Turnage wartet an einem Denkmal, um das er vor zwölf Monaten an sieben Tagen hintereina­nder im Kreis gelaufen ist. Die Botschaft, die er schon damals verkündete, hat er in weißen und roten Lettern auf einem T-Shirt verewigt: „Entfernt die Statue – oder entfernt das Gerichtsge­bäude!“Die Statue, ein Südstaaten­soldat mit Gewehr in der Hand, thront auf einem Sockel, auf dem Kompanien aufgeliste­t sind, die 1861 aus der Gegend um Rocky Mount in den Krieg gegen den Norden zogen, gegen Abraham Lincoln, den späteren Sklavenbef­reier. Das Courthouse wurde 1909 errichtet, das Monument davor ein Jahr später. Was Turnage daran stört, ist die Tatsache, dass beide eine Einheit bilden. Würde man den Steinsolda­ten in ein Museum verfrachte­n, könnte er damit leben. Das Ensemble aber, sagt er, gebe ihm das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein. Diskrimini­ert durch die Gerichtsba­rkeit. „Früher waren wir Sklaven, heute sind wir Kriminelle“, bringt es der 41-jährige Afroamerik­aner auf einen bitteren Satz. „Das weiße Amerika“, sagt er und meint die Netzwerke der Good Old Boys, „das weiße Amerika bringt es einfach nicht fertig, mich als Juristen in diesem Haus zu sehen. Es sieht mich immer nur auf der Anklageban­k.“Henrys Frau Karshanda war bis vor Kurzem Psychologi­n beim Militär, mit der Armee sind sie herumgekom­men, sie haben in Deutschlan­d gelebt, auch in Japan. Er könne nicht akzeptiere­n, dass für seinen achtjährig­en Sohn Xavier im Kleinstadt-Amerika à la Rocky Mount alles beim Alten bleibe, sagt Turnage. Dass auch Xavier, wenn er größer sei, automatisc­h als Bedrohung angesehen werde, nicht als potenziell­er Richter in dunkler Robe. Genau dafür, für den Dünkel von gestern, stehe der Konföderie­rte vor dem Sitz der Justiz. Und deshalb müsse er weichen. Ein Referendum, das Turnage mit seinem Protest erzwang, endete damit, dass 69 Prozent der Bewohner gegen die Demontage des Denkmals stimmten. „Die Angst vor dem Wandel“, sagt Henry Turnage. Das weiße Amerika habe erlebt, wie Barack Obama als erster schwarzer Präsident im Weißen Haus einzog, und seither habe die Angst vor dem eigenen Machtverlu­st hysterisch­e Züge angenommen. „Von dort, glaube ich, führt eine ziemlich gerade Linie zum Angriff auf das Kapitol.“

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FOTOS (4): FRANK HERRMANN Für viele ein Zeichen der Unterdrück­ung: Das Denkmal vor dem Gerichtsge­bäude in Rocky Mount zeigt einen Südstaaten­soldaten des amerikanis­chen Bürgerkrie­gs.
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Henry Turnage lief im vergangene­n Jahr sieben Tage lang um das Denkmal, um eine Verlegung zu fordern.
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Donald „Whitey“Taylor, Besitzer der „Trump Church“.
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Bridgette Craighead in ihrem Frisiersal­on in Rocky Mount.

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