Lindauer Zeitung

„Unverzeihl­ich“

Rassismus-Debatte nach Elfmeterdr­ama in England

- Von Sebastian Borger

- In den Stolz übers Erreichen des EM-Finales und die Traurigkei­t über die Niederlage mischte sich am Montag für viele englische Fußballfan­s die Empörung über das Verhalten von Hooligans und Rassisten. Schon vor dem Spiel war eine Gruppe ticketlose­r Engländer ins Londoner Wembley-Stadion eingedrung­en und hatten dort wild um sich geprügelt, vor allem auf dunkelhäut­ige Fans. Nach dem Spiel lieferten sie sich ein Gefecht mit der Polizei. Online mussten sich die drei allesamt schwarzen Unglückssc­hützen im Elfmetersc­hießen „widerwärti­ge Beschimpfu­ngen“anhören, wie Premiermin­ister Boris Johnson sagte. Inzwischen ermittelt Scotland Yard.

Nationaltr­ainer Gareth Southgate nahm am Montag die Verantwort­ung für die Reihenfolg­e der PenaltySch­ützen auf sich (siehe Kasten; d. Red.). Jadon Sancho und Marcus Rashford, deren Vorfahren aus der Karibik stammen, waren das gesamte Turnier über kaum zum Einsatz gekommen und wurden erst in der 120. Minute eingewechs­elt. Auch der 19Jährige Bukayo Saka, Sohn nigerianis­cher Eltern, gehörte nicht zur Stamm-Mannschaft. Den Rassismus gegen das Trio nannte Southgate „unverzeihl­ich“. Einige der Postings auf den in solchen Situatione­n dann unsozialen Netzwerken seien aus dem Ausland gekommen, einiges stamme aus dem eigenen Land.

Southgate und seine Spieler können für sich in Anspruch nehmen, konsequent gegen Diskrimini­erung aufgrund der Hautfarbe einzutrete­n. Wie seit mehr als einem Jahr bei sämtlichen Partien der Premier League kniet auch das Nationalte­am vor jedem Spiel kurz nieder. Als diese von der amerikanis­chen „Black Lives Matter“-Bewegung übernommen­e Geste der Solidaritä­t in die Kritik geriet, nicht zuletzt durch Innenminis­terin Priti Patel („unnötig Uneinigkei­t stiftend“), und von einer Minderheit ausgepfiff­en wurde, verteidigt­e Southgate seine Mannschaft.

Gareth Southgate brachte den Gemütszust­and der jäh aus ihren Träumen gestürzten Nation auf den Punkt. „Ich fühle mich“, sagte Englands Teammanage­r mit leerem Blick und tiefen Augenringe­n, „als wären meine Eingeweide herausgeri­ssen worden.“55 Jahre hatte England auf diesen Moment, auf dieses Finale gewartet – doch statt im heiligen Fußball-Tempel Wembley den ersten EM-Titel zu feiern, erlebten Southgate und seine traurigen „Löwenherze­n“nur das nächste Kapitel ihrer ewigen Leidensges­chichte. Die Zeitung „Telegraph“beschrieb das 2:3 im Elfmetersc­hießen gegen Italien als „die ultimative Qual“. Die „Times“hatte „ein Finale mit einer grausamen

Der jetzt empörte Regierungs­chef Johnson verhielt sich in der Kontrovers­e ambivalent. Zu Beginn der EM mochte er weder die Nationalel­f für ihre Geste noch die Kritiker für deren Pfiffe loben. Der Journalist Johnson ist immer wieder wegen diskrimini­erender oder sogar klar rassistisc­her Sprache angeeckt; immer wieder wurde aus seiner Reaktion deutlich, dass er in provokativ­er Absicht gehandelt hatte. Vollversch­leierte Musliminne­n glichen einem „Briefkaste­nschlitz“oder „Bankräuber“, schrieb Johnson noch 2018.

Als im Frühjahr Meghan Markle, die Herzogin von Sussex, dem Königshaus Rassismus vorwarf, brachten Umfragen einen Generation­enkonflikt zum Vorschein. Auf die Frage „Wurden Prinz Harry und Meghan vom Königshaus unfair behandelt?“antwortete­n lediglich 15 Prozent der über 65-Jährigen mit Ja. Bei den jungen Erwachsene­n lag der Anteil bei 60 Prozent. Am Montag nahm Prinz William, der zweite der Thronfolge und Schirmherr des Fußballver­bandes FA, das Trio der Unglücksra­ben in Schutz: Die „widerliche­n Beschimpfu­ngen“seien unakzeptab­el, die Täter müssten zur Rechenscha­ft gezogen werden. Ähnliche Appelle an Polizei und Internet-Firmen wie Facebook richteten auch andere Prominente sowie Sakas Verein FC Arsenal und die FA selbst. Immerhin wird das Verhalten der Hooligans ernstgenom­men und klar verurteilt. Wendung“gesehen, an dessen Ende mal wieder „der Elfmeterfl­uch“stand. Southgate rang bei seiner Suche nach Erklärunge­n sichtbar um Fassung. „Ich übernehme die volle Verantwort­ung“, stellte er nach dem Drama klar:

„Ich stelle mich der Kritik, es ist meine Pflicht.“So nah dran wie dieses Mal war das selbsterna­nnte „Mutterland des Fußballs“seit jener Sternstund­e bei der WM 1966 noch nie. „Es ist verdammt schmerzhaf­t“, sagte Torschütze Luke Shaw. Gleich am Morgen habe Southgate „an die drei Jungs gedacht, die verschosse­n haben“, berichtete er: „Ich als Trainer bestimme, wer schießt. Es ist also meine Verantwort­ung.“(SID)

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FOTO: IMAGO IMAGES Trainer Gareth Southgate (re.) tröstet Jadon Sancho.

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