„Unverzeihlich“
Rassismus-Debatte nach Elfmeterdrama in England
- In den Stolz übers Erreichen des EM-Finales und die Traurigkeit über die Niederlage mischte sich am Montag für viele englische Fußballfans die Empörung über das Verhalten von Hooligans und Rassisten. Schon vor dem Spiel war eine Gruppe ticketloser Engländer ins Londoner Wembley-Stadion eingedrungen und hatten dort wild um sich geprügelt, vor allem auf dunkelhäutige Fans. Nach dem Spiel lieferten sie sich ein Gefecht mit der Polizei. Online mussten sich die drei allesamt schwarzen Unglücksschützen im Elfmeterschießen „widerwärtige Beschimpfungen“anhören, wie Premierminister Boris Johnson sagte. Inzwischen ermittelt Scotland Yard.
Nationaltrainer Gareth Southgate nahm am Montag die Verantwortung für die Reihenfolge der PenaltySchützen auf sich (siehe Kasten; d. Red.). Jadon Sancho und Marcus Rashford, deren Vorfahren aus der Karibik stammen, waren das gesamte Turnier über kaum zum Einsatz gekommen und wurden erst in der 120. Minute eingewechselt. Auch der 19Jährige Bukayo Saka, Sohn nigerianischer Eltern, gehörte nicht zur Stamm-Mannschaft. Den Rassismus gegen das Trio nannte Southgate „unverzeihlich“. Einige der Postings auf den in solchen Situationen dann unsozialen Netzwerken seien aus dem Ausland gekommen, einiges stamme aus dem eigenen Land.
Southgate und seine Spieler können für sich in Anspruch nehmen, konsequent gegen Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe einzutreten. Wie seit mehr als einem Jahr bei sämtlichen Partien der Premier League kniet auch das Nationalteam vor jedem Spiel kurz nieder. Als diese von der amerikanischen „Black Lives Matter“-Bewegung übernommene Geste der Solidarität in die Kritik geriet, nicht zuletzt durch Innenministerin Priti Patel („unnötig Uneinigkeit stiftend“), und von einer Minderheit ausgepfiffen wurde, verteidigte Southgate seine Mannschaft.
Gareth Southgate brachte den Gemütszustand der jäh aus ihren Träumen gestürzten Nation auf den Punkt. „Ich fühle mich“, sagte Englands Teammanager mit leerem Blick und tiefen Augenringen, „als wären meine Eingeweide herausgerissen worden.“55 Jahre hatte England auf diesen Moment, auf dieses Finale gewartet – doch statt im heiligen Fußball-Tempel Wembley den ersten EM-Titel zu feiern, erlebten Southgate und seine traurigen „Löwenherzen“nur das nächste Kapitel ihrer ewigen Leidensgeschichte. Die Zeitung „Telegraph“beschrieb das 2:3 im Elfmeterschießen gegen Italien als „die ultimative Qual“. Die „Times“hatte „ein Finale mit einer grausamen
Der jetzt empörte Regierungschef Johnson verhielt sich in der Kontroverse ambivalent. Zu Beginn der EM mochte er weder die Nationalelf für ihre Geste noch die Kritiker für deren Pfiffe loben. Der Journalist Johnson ist immer wieder wegen diskriminierender oder sogar klar rassistischer Sprache angeeckt; immer wieder wurde aus seiner Reaktion deutlich, dass er in provokativer Absicht gehandelt hatte. Vollverschleierte Musliminnen glichen einem „Briefkastenschlitz“oder „Bankräuber“, schrieb Johnson noch 2018.
Als im Frühjahr Meghan Markle, die Herzogin von Sussex, dem Königshaus Rassismus vorwarf, brachten Umfragen einen Generationenkonflikt zum Vorschein. Auf die Frage „Wurden Prinz Harry und Meghan vom Königshaus unfair behandelt?“antworteten lediglich 15 Prozent der über 65-Jährigen mit Ja. Bei den jungen Erwachsenen lag der Anteil bei 60 Prozent. Am Montag nahm Prinz William, der zweite der Thronfolge und Schirmherr des Fußballverbandes FA, das Trio der Unglücksraben in Schutz: Die „widerlichen Beschimpfungen“seien unakzeptabel, die Täter müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Ähnliche Appelle an Polizei und Internet-Firmen wie Facebook richteten auch andere Prominente sowie Sakas Verein FC Arsenal und die FA selbst. Immerhin wird das Verhalten der Hooligans ernstgenommen und klar verurteilt. Wendung“gesehen, an dessen Ende mal wieder „der Elfmeterfluch“stand. Southgate rang bei seiner Suche nach Erklärungen sichtbar um Fassung. „Ich übernehme die volle Verantwortung“, stellte er nach dem Drama klar:
„Ich stelle mich der Kritik, es ist meine Pflicht.“So nah dran wie dieses Mal war das selbsternannte „Mutterland des Fußballs“seit jener Sternstunde bei der WM 1966 noch nie. „Es ist verdammt schmerzhaft“, sagte Torschütze Luke Shaw. Gleich am Morgen habe Southgate „an die drei Jungs gedacht, die verschossen haben“, berichtete er: „Ich als Trainer bestimme, wer schießt. Es ist also meine Verantwortung.“(SID)