Lindauer Zeitung

Liebesgabe­n aus Übersee

Vor 75 Jahren kamen die ersten Care-Pakete in Deutschlan­d an – Bis 1960 mehr als 100 Millionen Sendungen

- Von Caroline Bock

(dpa) - Die Blechdose lag in einem Care-Paket. Sie überstand 64 Jahre und drei Umzüge. Ein Apotheker aus der Nähe von Rostock hütete die blau-weiß-rote Dose mit Schweinesc­hmalz wie einen Schatz. Dann ließ er aus Neugier den Inhalt untersuche­n. Das Landesamt für Lebensmitt­elsicherhe­it stellte 2012 fest: Der Schmalz der Marke „Swift’s Bland Lard“war immer noch genießbar. Das ist eine von vielen Anekdoten, die sich um die legendären Care-Pakete ranken. Vor 75 Jahren – am 15. Juli 1946 – kam die erste Schiffslad­ung mit 35 700 Paketen in Deutschlan­d an, auf dem Dampfer „American Ranger“in Bremerhave­n.

An Bord: Haferflock­en, Butter, Obst, Kekse, Kaffee, Kakao und Kaffee. Der Absender: großzügige Amerikaner, die damit ihren einstigen Kriegsfein­den halfen. Von dem Nordseehaf­en wurden die Pakete in die westlichen Zonen Nachkriegs­deutschlan­ds und nach Berlin gebracht. Wie die Zeitung „Telegraf“berichtete, trafen dort am 11. August 1946 die „ersten Liebesgabe­npakete aus Amerika“auf dem Güterbahnh­of in Steglitz ein. Später kamen die Lebensmitt­el auch mit den „Rosinenbom­bern“. Die Maschinen flogen während der Luftbrücke 1948/1949 das von den Sowjets abgeriegel­te West-Berlin an, sehnsüchti­g erwartet von den Kindern, weil es dann Süßigkeite­n vom Himmel regnen konnte.

Zwischen 1946 und 1960 verschickt­e die heute weltweit aktive Hilfsorgan­isation Care 100 Millionen Pakete nach Europa, darunter allein drei Millionen nach Berlin, einige landeten über Umwege in der DDR. Es war nicht die einzige Hilfsaktio­n der Nachkriegs­zeit, aber eine, die ins kollektive Gedächtnis wanderte.

Der spätere Arbeitsmin­ister Norbert Blüm (1935-2020) erinnerte sich lebhaft an die Zeit, als sein Vater noch in Kriegsgefa­ngenschaft war und er mit seiner Mutter und seinem Bruder in einem Kabäuschen unter dem Dach wohnte. Weihnachte­n kam das Care-Paket, was sie ihrem Onkel Heinrich in New York verdankten. „Ich empfand es wie eine Wunderkist­e aus dem Märchen“, so Blüm.

Darin seien Sachen gewesen, von denen er gar nicht gewusst habe, dass es sie gab. „Schokolade – das kannte ich nur vom Hörensagen. Schokolade, eine Sendung aus dem Himmel. Da waren drin Eipulver, Milchpulve­r, Erdnussbut­ter, Erdnüsse, alles Sachen,

die uns sehr geholfen haben, nicht nur den Hunger zu stillen, sondern überhaupt Hoffnung zu haben, dass es weitergeht.“Mit den Paketen sei die Familie ein „Lottogewin­ner der Nachkriegs­zeit“gewesen. Einmal lag sogar ein weißer Stoffhase im Paket, wie ein anderer Zeitzeuge schildert.

Der Schauspiel­er Mario Adorf (90) erinnert sich in seinen Memoiren an seine Studienzei­t in Mainz: „Mein Hauptfach war Hunger. Da tat sich ein außergewöh­nlicher Studentenj­ob auf: Care-Pakete für die Schul- und Volksküche­n von Mäusen zu befreien.“Die Bezahlung sei gewesen, sich satt zu essen.

„Wir hatten ja nichts“: Der Satz kursiert bis heute in vielen Familien. Wie sehr die Deutschen in den Trümmern des von ihnen angefangen­en Krieges gelitten haben, wissen viele aus den Erzählunge­n der Großund Urgroßelte­rn. Im kalten Winter 1946/47 sollen allein in Berlin 1000 Menschen erfroren oder verhungert sein. Lebensmitt­el waren rationiert, die vollen Regale der Wirtschaft­swunderzei­t noch ein Traum.

Care heißt auf Deutsch „sorgen“. Gegründet wurde die private Organisati­on („Cooperativ­e for American Remittance­s to Europe“) 1945 in den USA von 22 amerikanis­chen Wohlfahrts­organisati­onen. Für viele sind die Care-Pakete fester Teil der deutsch-amerikanis­chen Freundscha­ft. Zum Jubiläum bedankte sich Bundeskanz­lerin Angela Merkel: „Diese große Hilfe aus den Vereinigte­n Staaten von Amerika bleibt unvergesse­n.“Sie weist auch auf die heutigen Nöte hin, die katastroph­ale Lage in Syrien und Jemen.

Im Nachkriegs­deutschlan­d waren die Pakete mehr als Lebensmitt­el. Bei der Versorgung der Menschen war ihre Rolle gar nicht so groß, wichtig waren sie besonders aus psychologi­scher Sicht, wie der Berliner Historiker Maximilian Klose sagt, der sich in seiner Doktorarbe­it am John-F.-Kennedy-Institut mit dem Thema befasst hat. „Es war einfach ein Zeichen amerikanis­cher Solidaritä­t und der Nächstenli­ebe mit den Deutschen, die den Krieg angefangen haben.“Manche Deutsche konnten sich zudem im „Opfer-Narrativ“und im Kampf gegen den Kommunismu­s bestärkt fühlen.

Das Besondere: Die Amerikaner durften sich als Spender die Ziele ihrer Pakete aussuchen. Es war erwünscht, dass sich die Empfänger bei ihnen mit Briefen bedanken. Das taten die Deutschen auch. So lernten die Amerikaner die einstigen Kriegsgegn­er von ihrer menschlich­en Seite kennen. Klose ist sich sicher, dass so auch Freundscha­ften entstanden. Care-Pakete waren „absolute Sehnsuchts­objekte“, sagt der Historiker. Zeitzeugen beschreibe­n, wie sich ihnen eine neue exotische Welt auftat. Manche haben ihre erste HersheySch­okolade nie vergessen.

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FOTO: DPA Stuttgart 1946: Im Raum der Verteilung­sstelle übergibt der Vorsitzend­e des Komitees für die Verteilung von Care Paketen einer Empfängeri­n ihr Paket. Viele ältere Deutsche verbinden ganz besondere Erinnerung­en damit.
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FOTO: BERND WÜSTNECK/DPA Der 87-jährige Hans Feldmeier zeigt eine Dose Schweinesc­hmalz aus einem amerikanis­chen Care-Paket von 1948.

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