Lindauer Zeitung

Wilder Ritt durchs ländliche Frankreich

Mathias Énards neuer Roman „Das Jahresbank­ett der Totengräbe­r“spielt in seiner Heimat

- Von Stephan Maurer

Ein Anthropolo­ge erkundet das ländliche Frankreich: In seinem neuen Roman startet Mathias Énard von der westfranzö­sischen Provinz aus zu einer atemberaub­enden Reise durch die Jahrhunder­te.

„Lasst uns fröhlich sein, Brüder der Traurigkei­t, statt lange Gesichter zu machen, wollen wir ein gigantisch­es Gelächter anstimmen!“Es ist ein gewaltiges, drei Tage währendes Fressen und Saufen, das Jahresbank­ett der Totengräbe­r und das titelgeben­de Kernstück des neuen Romans „Das Jahresbank­ett der Totengräbe­r“von Mathias Énard.

Énard, 1972 geboren, ist seit seinem Roman „Zone“(2008) einer der großen europäisch­en Erzähler der Gegenwart. Für „Kompass“erhielt er den Prix Goncourt und 2017 den Leipziger Buchpreis zur Europäisch­en Verständig­ung. Nahm er seine Leserinnen und Leser bisher oft mit an ferne Orte, so spielt sein neuer Roman in der Gegend um das westfranzö­sische Niort, seine Geburtssta­dt.

„Vielleicht liegt es gerade daran, dass ich mich in meinen Romanen bisher nie für Frankreich interessie­rt habe – plötzlich wurde mir klar, dass es dort Land zu erforschen gibt und dass meine Heimatregi­on manchen Menschen sogar außerorden­tlich exotisch erscheinen kann – von Paris, Straßburg oder Lyon aus gesehen, bieten diese westliche Ebene und ihre Sümpfe einen idealen Schauplatz für das Thema, das ich entwickeln wollte“, sagt er in einem Interview des Verlags.

Dorthin begibt sich der junge Anthropolo­ge David Mazon, um Feldforsch­ung für seine Dissertati­on über das ländliche Frankreich zu betreiben. Seine anspruchsl­ose Unterkunft nennt er „das Wilde Denken“, in Anspielung an den Ethnologen Claude Lévi-Strauss, der die Denkweise vermeintli­ch primitiver Kulturen so nannte.

Mit einem alten Moped fährt Mazon durch die Gegend, er sitzt in der Dorfkneipe, er befragt die Einwohner und lernt sie kennen: die Biobäuerin Lucie, den Wirt Thomas, den Künstler Max, und natürlich den Bürgermeis­ter und Totengräbe­r Martial Pouvreau. In Tagebuchno­tizen hält er seine Eindrücke fest und erzählt nebenher von den erotisch aufgeladen­en Chats mit seiner Freundin Lara in Paris. Doch mehr und mehr entfremdet er sich dem großstädti­schen Leben und taucht ein in die dörfliche Welt.

Énard wäre aber nicht Énard, würde er nicht aus der französisc­hen Provinz weit ausgreifen. In die Rahmenhand­lung eingebette­t ist eine üppige und ausschweif­ende Erzählung (kunstvoll übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller), die quer durch Europas Geschichte saust. Der erzähleris­che Kunstgriff, der dies ermöglicht, ist die Reinkarnat­ion. Ein Lebewesen stirbt, doch seine Seele schlüpft in einen anderen Körper. Und weiter geht der wilde Ritt durch

Jahrhunder­te und Epochen, mit dem Höhepunkt des Banketts, einer prächtigen Hommage an den Renaissanc­e-Schriftste­ller François Rabelais.

Mathias Énard porträtier­t in seinem meisterhaf­ten neuen Roman das ländliche Frankreich der Gegenwart, doch sein Buch ist mehr: Ein farbenpräc­htiges Gemälde, eine epische Reise durch Raum und Zeit. (dpa)

Mathias Énard: Das Jahresbank­ett der Totengräbe­r, Hanser Verlag, 480 Seiten, 26 Euro.

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FOTO: MARCO DESTEFANIS/IMAGO IMAGES Mathias Ènard hat die Handlung seines neuen Romans erstmals in das ländliche Frankreich der Gegenwart gelegt.
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