Lindauer Zeitung

„Das Regime hat in jeden Kuhstall reinregier­t“

Das Ausstellun­gsprojekt „VerVolkt – Kann Spuren von Nazis enthalten“in Memmingen thematisie­rt den Nazi-Terror in der Region

- Von Brigitte Hefele-Beitlich

- Am Ende seines neuen Films „Kann Spuren von Nazis enthalten“läuft Leo Hiemer auf ein Ortsschild bei Memmingen zu, auf dem „Juden hier unerwünsch­t“steht – und überstreic­ht das „un“einfach. Fast möchte man da aufatmen nach der schweren Kost, die einem der Allgäuer Historiker, Autor und Filmemache­r bis dahin in eindrückli­chen Bildern vorgesetzt hat, exklusiv gedreht für eine Ausstellun­g im Memminger Stadtmuseu­m. Wenn nicht dieses Unbehagen bliebe, dass damit noch längst nicht alles gesagt ist zum Thema Nazi-Verbrechen in der Region.

Denn der Film und die Ausstellun­g „VerVolkt – Kann Spuren von Nazis enthalten“fördern einiges zutage, was mancher gern unter dem Teppich gelassen hätte: den NaziTerror direkt vor unserer Haustür. In Memmingen, in Kempten, in Allgäuer Dörfern. Darunter auch noch wenig erforschte Kapitel wie das Kriegsgefa­ngenenlage­r Stalag VII B auf dem Hühnerberg in Memmingen oder die Funktion der Tierzuchth­alle (heute Allgäuhall­e) in Kempten, die Zwangsarbe­iterlager und Außenstell­e des KZs Dachau war. Oder noch nicht bekannte Schicksale von Frauen und Kindern, die Anklagen wegen Rassenscha­nde oder Menschenve­rWissen, suchen im Bezirkskra­nkenhaus Kaufbeuren zum Opfer fielen.

Als Sammlungsp­rojekt hat Kuratorin Regina Gropper die Ausstellun­g angelegt: Was sie für die Präsentati­on mit Hilfe einiger Experten aus dem ganzen Allgäu zusammenge­tragen hat, sollen nun Bürger mit ihrem

ihren Erinnerung­en oder Objekten ergänzen. Damit wird im Herbst eine weitere Ausstellun­g gestaltet. Eine wichtige Quelle wurde Gropper bereits zugespielt und fand Eingang in die Ausstellun­g: ein „geheimes“Privatarch­iv mit Fotos wie zum Beispiel von Memminger Kinderfest­kindern

die auf dem Marktplatz in Reih und Glied den Hitlergruß zeigen. Gegenüber hängen Aufnahmen aus dem Amtszimmer von Dr. Heinrich Berndl, der in Memmingen von 1933 bis 1945 Oberbürger­meister war und dann noch einmal von 1952 bis 1966. Seine Rolle während des NS-Regimes wird kontrovers diskutiert in der Stadt – und gerade von Historiker­in Kathrin Holly vom Bezirk Schwaben aufgearbei­tet. Wichtige Quelle für das Ausstellun­gsprojekt war auch die jüdische Abteilung im Stadtmuseu­m, die natürlich eingebunde­n ist in die Schau. Den Weg dorthin weisen Fotografie­n des jüdischen Memminger Kaufmanns und Fotografen Julius Guggenheim­er, der 1939 in die Emigration nach Amsterdam gezwungen und 1943 im Vernichtun­gslager Sobibor ermordet wurde. Einen Teil dieser beeindruck­enden Zeitdokume­nte hat Mewo-Kunsthalle­nleiter Axel Lapp erst vor wenigen Jahren durch Zufall entdeckt. Ein solcher Schatz sind auch die Zeichnunge­n eines französisc­hen Gefangenen über das Leben im KZ-Außenlager Kempten. Die Wanderauss­tellung „Geliebte Gabi. Ein Mädchen aus dem Allgäu – ermordet in Auschwitz“, eine OpenAir-Ausstellun­g und ein Begleitpro­gramm runden das Ausstellun­gsprojekt ab.

Doch zurück zum Film, in dem Leo Hiemer all das, was in den verschiede­nen Ausstellun­gsräumen zu sehen ist, in bewegenden Bildern verdichtet (Kamera: Samira Oberg). Er inszeniert sich dabei selbst als Spurensuch­er, begegnet Leuten, die ihm Geschichte­n erzählen. Hiemer stellt die Opfer in den Mittelpunk­t, weil er zeigen will: Dem Unrechtsre­gime konnte jeder zum Opfer fallen, auch im Allgäu. „Das Regime hat in jeden Kuhstall reinregier­t“, sagt er. „Und jede Kuhmagd wusste Bescheid.“Eingebaute Film- und Fotodokume­nte rütteln ebenso auf wie etwa die Originalak­ten des in Kaufbeuren zu Tode gekommenen Mädchens Franziska Endres, auf denen handschrif­tlich und akribisch genau sein Leidensweg dokumentie­rt ist. Man riecht den grausamen bürokratis­chen Vorgang förmlich. Ein gelungenes Bild ist auch, wie Hiemer als Zeichen der Wertschätz­ung immer wieder in Memmingen verlegte Stolperste­ine blank putzt.

Hiemer will die Zuschauer mit Emotionen packen. Deshalb ist Musik extrem wichtig für ihn. Er selbst hat ein Klavierstü­ck für den Film komponiert und eingespiel­t, Rainer von Vielen schafft eindrückli­che Momente mit sphärische­n Tönen aus seinem „Oriom“-Projekt.

Film und Ausstellun­gen schlagen schließlic­h auch die Brücke ins Heute, fragen nach aktuellen rechtsradi­kalen Tendenzen in unserer Gesellscha­ft und im schönen Allgäu – und benennen sie auch.

Das Stadtmuseu­m ist Dienstag bis Sonntag von elf bis 17 Uhr geöffnet.

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FOTO: BRIGITTE HEFELE-BEITLICH Zentrum des Ausstellun­gsprojekts „VerVolkt – Kann Spuren von Nazis enthalten“ist ein neuer Film von Leo Hiemer.

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