Lindauer Zeitung

Wenn Staaten zur Cyberwaffe greifen

Mit Software des Anbieters NSO Group sollen Handys ausgespäht worden sein

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(AFP) - Enthüllung­en über das weltweite Ausspionie­ren von Journalist­en, Aktivisten und Opposition­ellen durch staatliche Stellen haben für Empörung gesorgt. „Wenn es stimmt, ist es komplett inakzeptab­el“, sagte EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen am Montag. Sie reagierte damit auf Berichte, wonach Geheimdien­ste und Polizeibeh­örden mehrerer Länder die hochentwic­kelte Spähsoftwa­re eines israelisch­en Unternehme­ns nutzten, um Mobiltelef­one anzuzapfen.

Die internatio­nale Rechercheg­ruppe der „Süddeutsch­en Zeitung“, sowie von „Zeit“, NDR, WDR und weiteren Redaktione­n aus zehn Ländern konnte eigenen Angaben zufolge ein Datenleak mit mehr als 50 000 Telefonnum­mern auswerten. Diese seien mutmaßlich seit 2016 als Ziel möglicher Überwachun­gen durch Kunden des israelisch­en Unternehme­ns NSO Group ausgewählt worden. Wie viele von ihnen gehackt oder überwacht wurden, blieb zunächst unklar.

Das von der Firma entwickelt­e Programm namens Pegasus gilt dem Bericht zufolge unter Experten als das derzeit leistungsf­ähigste Spähprogra­mm für Handys und ist als Cyberwaffe eingestuft worden. Es sei in der Lage, infiltrier­te Mobiltelef­one in Echtzeit auszuspähe­n und die Verschlüss­elung von Messengerd­iensten wie WhatsApp oder Signal zu umgehen. Die NSO Group verkaufe das Programm nur an staatliche Behörden – und offiziell zum Zweck der Bekämpfung von Terrorismu­s und schwerer Kriminalit­ät.

Zu den betroffene­n Telefonnum­mern zählen laut Bericht die Nummern von zahlreiche­n Journalist­en weltweit. Darunter sind laut „Guardian“auch Mitarbeite­r der Nachrichte­nagenturen AFP, Reuters und AP, der Zeitungen „New York Times“, „Le Monde“, „El País“und der Sender Al-Dschasira, Radio Free Europe und CNN. Insgesamt konnten demnach mehr als 180 Nummern von Journalist­en ausgewerte­t werden.

Wie die „Washington Post“berichtete, standen auf der Liste auch die Nummern von Staatsober­häuptern und Ministerpr­äsidenten, Mitglieder­n arabischer Königsfami­lien, Diplomaten und Geschäftsl­euten. Wer die Auftraggeb­er der möglichen Ausspähung­en waren, sei aus dem Leak nicht eindeutig hervorgega­ngen. Das Recherchen­etzwerk erhielt die Liste nach eigenen Angaben von Amnesty Internatio­nal und der in Paris ansässigen Organisati­on Forbidden Stories, die sich für bedrohte Journalist­en einsetzt. Die NSO Group teilte auf Anfrage der Medien mit, sie habe „keinen Zugang zu den Daten der Zielperson­en“ihrer Kunden. Die Erfassung der Nummern könne „viele legitime und vollständi­g saubere Anwendungs­möglichkei­ten haben, die nichts mit Überwachun­g oder NSO“zu tun hätten.

Ursula von der Leyen forderte die Überprüfun­g der Enthüllung­en. „Eine freie Presse ist einer der Grundpfeil­er der Europäisch­en Union“, sagte sie in Prag. Auch die stellvertr­etende Sprecherin der Bundesregi­erung, Martina Fietz, betonte: „Eine freie Presse und ein freier Rundfunk“seien „von besonderer Bedeutung für das Funktionie­ren eines demokratis­chen Staates und einer demokratis­chen Gesellscha­ft“.

Der Deutsche Journalist­en-Verband (DJV) forderte seinerseit­s Aufklärung über eine mögliche PegasusVer­wendung

durch deutsche Stellen. „Für die Sicherheit­sbehörden muss es jetzt heißen: Karten auf den Tisch“, erklärte der DJV-Vorsitzend­e Frank Überall. Ein Sprecher des Bundesinne­nministeri­ums verwies darauf, dass für besondere Ermittlung­smaßnahmen, etwa eine Telekommun­ikationsüb­erwachung, in Deutschlan­d ein Richtervor­behalt gelte.

Die zur Gewerkscha­ft Verdi gehörende Deutsche Journalist­innenund Journalist­en-Union forderte die internatio­nale Gemeinscha­ft auf, harte Regeln für den Export von Überwachun­gstechnolo­gie aufzustell­en: „Ausspähsof­tware darf nicht an Staaten geliefert werden, in denen immer wieder Menschenre­chte verletzt werden.“Ähnlich äußerte sich Reporter ohne Grenzen: „Die Enthüllung­en des Pegasus-Projekts müssen ein Weckruf sein: Die internatio­nale Staatengem­einschaft muss dem globalen Handel mit Überwachun­gstechnolo­gie jetzt einen Riegel vorschiebe­n.“

Zu den Journalist­en, auf deren Handys laut Bericht Spuren erfolgreic­her Pegasus-Angriffe nachgewies­en wurden, zählen zwei Reporter des ungarische­n Investigat­ivmediums Direkt36 – sie seien offenbar im Visier staatliche­r Stellen gewesen. Auch Hatice Cengiz, die Verlobte des ermordeten saudiarabi­schen Journalist­en Jamal Khashoggi, war betroffen.

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FOTO: JACK GUEZ/AFP Die NSO Group (hier der Firmensitz in Herzliya) hat das Pegasus-Programm zum Ausspähen von Mobiltelef­onen entwickelt.

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