„Freiheitstag“hat England kaum verändert
Die meisten Briten sind vorsichtiger als ihr Premierminister Boris Johnson
- Ein wenig Freude, viel unverändertes Verhalten und düstere Warnungen – die komplette Aufhebung sämtlicher Corona-Beschränkungen ist am Montag, dem „Freedom Day“, in England verhalten aufgenommen worden. Beeinträchtigt war die Stimmung auch deshalb, weil die zuletzt sprunghaft angestiegenen Infektionen mit der besonders ansteckenden Delta-Variante von SarsCoV-2 Millionen von Bürgern, darunter auch Premierminister Boris Johnson, zur häuslichen Quarantäne zwingen. „Seien Sie bitte, bitte, bitte vorsichtig“, mahnte der Regierungschef.
Zu Ende gingen in der Nacht zum Montag im weitaus größten Landesteil die Maskenpflicht in Geschäften, Bussen und Bahnen sowie die Abstandsregeln. In Pubs dürfen sich die Menschen wieder an der Theke drängen, Theater und Kinos bis auf den letzten Platz besetzt werden. Auch die Aufforderung der Regierung, nach Möglichkeit von zu Hause zu arbeiten, gehört der Vergangenheit an. Hingegen halten die kleineren Landesteile Schottland, Wales und Nordirland bis auf Weiteres an Vorschriften fest, vor allem muss dort weiterhin der Mund-Naseschutz getragen werden.
In der Realität hat sich auch in England wenig verändert. Immerhin öffneten um Mitternacht die seit März vergangenen Jahres verwaisten Nachtclubs erstmals wieder ihre Türen. Der endlich heiße Sommer hat in den vergangenen Tagen die Menschen zu Hunderttausenden in Parks und an die Strände gelockt, wo von den bisher geltenden Abstandsregeln keine Rede mehr sein konnte. Cafés, Pubs und Restaurants haben sich in den vergangenen Monaten vielerorts ins Freie verlagert.
Eine Umfrage des Unternehmens YouGov Ende vergangener Woche deutete darauf hin, dass sich der Populist Johnson diesmal von der Volksmeinung entfernt hat. Demnach
halten 55 Prozent der Briten die englische Öffnungspolitik für falsch, lediglich 31 Prozent freuen sich, der Rest gibt sich unentschieden. Labour-Oppositionsführer Keir Starmer verdammte Johnsons Vorgehen als unbesonnen: „Der Premierminister packt die Nation ins Auto, tritt aufs Gas und nimmt den Gurt ab.“
Im öffentlichen Raum gilt nun ein verwirrendes Flickwerk von Regeln, weil kommunal Verantwortliche deutlich vorsichtiger agieren als die Zentralregierung. So gibt es in London Bahnhöfe, wo am gleichen Bahnsteig Züge unterschiedlicher Betreiber halten. Wer beispielsweise in Farringdon in die U-Bahnlinie Circle Line einsteigt, ist laut Erlass des Bürgermeisters Sadiq Khan zum Maskentragen verpflichtet. Die Fahrt mit Thameslink nach Brighton darf hingegen maskenfrei absolviert werden.
In der Woche bis Sonntag ging die Zahl der täglich gemeldeten positiven Covid-Tests landesweit um 43 Prozent nach oben, lag zuletzt bei 48 161 Neuinfektionen und damit bei einer Inzidenz von 376 pro 100 000 Einwohner. 39 Prozent mehr Patienten mussten wegen einer Covid-Erkrankung ins Krankenhaus gebracht werden, täglich kommt es zu 600 Neueinweisungen.
Im Nationalen Gesundheitssystem NHS nehme der Druck „ständig zu“, berichtet Alison Piccard vom Fachverband britischer Intensivmediziner. „Wir fühlen uns mitten im Juli wie in einem schwierigen Winter.“Die Zahl der Toten lag ebenfalls um 39 Prozent höher als in der Vorwoche, durchschnittlich 40 Verstorbene pro Tag.
Nationale und internationale Wissenschaftler warnen seit Wochen vor der gänzlichen Aufhebung der Einschränkungen. Er kenne „keinen verantwortungsvollen Gesundheitsexperten“, sagt der frühere australische Staatssekretär Stephen Duckett, „der eine Öffnung befürwortet zu einer Zeit, da sich das Virus rasch verbreitet“. Vernünftig sei vielmehr „eine schrittweise und vorsichtige Lockerung“, pflichtet ihm Jeremy Farrar bei, der den milliardenschweren Wellcome Trust leitet. Professor Neil Ferguson, ein Mitglied des wissenschaftlichen Beratergremiums der Regierung, hält binnen weniger Wochen bis zu 200 000 Neuinfektionen täglich für möglich.