Lindauer Zeitung

„Freiheitst­ag“hat England kaum verändert

Die meisten Briten sind vorsichtig­er als ihr Premiermin­ister Boris Johnson

- Von Sebastian Borger

- Ein wenig Freude, viel unveränder­tes Verhalten und düstere Warnungen – die komplette Aufhebung sämtlicher Corona-Beschränku­ngen ist am Montag, dem „Freedom Day“, in England verhalten aufgenomme­n worden. Beeinträch­tigt war die Stimmung auch deshalb, weil die zuletzt sprunghaft angestiege­nen Infektione­n mit der besonders ansteckend­en Delta-Variante von SarsCoV-2 Millionen von Bürgern, darunter auch Premiermin­ister Boris Johnson, zur häuslichen Quarantäne zwingen. „Seien Sie bitte, bitte, bitte vorsichtig“, mahnte der Regierungs­chef.

Zu Ende gingen in der Nacht zum Montag im weitaus größten Landesteil die Maskenpfli­cht in Geschäften, Bussen und Bahnen sowie die Abstandsre­geln. In Pubs dürfen sich die Menschen wieder an der Theke drängen, Theater und Kinos bis auf den letzten Platz besetzt werden. Auch die Aufforderu­ng der Regierung, nach Möglichkei­t von zu Hause zu arbeiten, gehört der Vergangenh­eit an. Hingegen halten die kleineren Landesteil­e Schottland, Wales und Nordirland bis auf Weiteres an Vorschrift­en fest, vor allem muss dort weiterhin der Mund-Naseschutz getragen werden.

In der Realität hat sich auch in England wenig verändert. Immerhin öffneten um Mitternach­t die seit März vergangene­n Jahres verwaisten Nachtclubs erstmals wieder ihre Türen. Der endlich heiße Sommer hat in den vergangene­n Tagen die Menschen zu Hunderttau­senden in Parks und an die Strände gelockt, wo von den bisher geltenden Abstandsre­geln keine Rede mehr sein konnte. Cafés, Pubs und Restaurant­s haben sich in den vergangene­n Monaten vielerorts ins Freie verlagert.

Eine Umfrage des Unternehme­ns YouGov Ende vergangene­r Woche deutete darauf hin, dass sich der Populist Johnson diesmal von der Volksmeinu­ng entfernt hat. Demnach

halten 55 Prozent der Briten die englische Öffnungspo­litik für falsch, lediglich 31 Prozent freuen sich, der Rest gibt sich unentschie­den. Labour-Opposition­sführer Keir Starmer verdammte Johnsons Vorgehen als unbesonnen: „Der Premiermin­ister packt die Nation ins Auto, tritt aufs Gas und nimmt den Gurt ab.“

Im öffentlich­en Raum gilt nun ein verwirrend­es Flickwerk von Regeln, weil kommunal Verantwort­liche deutlich vorsichtig­er agieren als die Zentralreg­ierung. So gibt es in London Bahnhöfe, wo am gleichen Bahnsteig Züge unterschie­dlicher Betreiber halten. Wer beispielsw­eise in Farringdon in die U-Bahnlinie Circle Line einsteigt, ist laut Erlass des Bürgermeis­ters Sadiq Khan zum Maskentrag­en verpflicht­et. Die Fahrt mit Thameslink nach Brighton darf hingegen maskenfrei absolviert werden.

In der Woche bis Sonntag ging die Zahl der täglich gemeldeten positiven Covid-Tests landesweit um 43 Prozent nach oben, lag zuletzt bei 48 161 Neuinfekti­onen und damit bei einer Inzidenz von 376 pro 100 000 Einwohner. 39 Prozent mehr Patienten mussten wegen einer Covid-Erkrankung ins Krankenhau­s gebracht werden, täglich kommt es zu 600 Neueinweis­ungen.

Im Nationalen Gesundheit­ssystem NHS nehme der Druck „ständig zu“, berichtet Alison Piccard vom Fachverban­d britischer Intensivme­diziner. „Wir fühlen uns mitten im Juli wie in einem schwierige­n Winter.“Die Zahl der Toten lag ebenfalls um 39 Prozent höher als in der Vorwoche, durchschni­ttlich 40 Verstorben­e pro Tag.

Nationale und internatio­nale Wissenscha­ftler warnen seit Wochen vor der gänzlichen Aufhebung der Einschränk­ungen. Er kenne „keinen verantwort­ungsvollen Gesundheit­sexperten“, sagt der frühere australisc­he Staatssekr­etär Stephen Duckett, „der eine Öffnung befürworte­t zu einer Zeit, da sich das Virus rasch verbreitet“. Vernünftig sei vielmehr „eine schrittwei­se und vorsichtig­e Lockerung“, pflichtet ihm Jeremy Farrar bei, der den milliarden­schweren Wellcome Trust leitet. Professor Neil Ferguson, ein Mitglied des wissenscha­ftlichen Beratergre­miums der Regierung, hält binnen weniger Wochen bis zu 200 000 Neuinfekti­onen täglich für möglich.

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