Lindauer Zeitung

Kampf gegen die Schlammmas­sen

Nach der Flutkatast­rophe laufen die Aufräumarb­eiten in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen

- Von Ira Schaible

(dpa) Als die Wassermass­en in der Nacht den rheinland-pfälzische­n Weinort Dernau an der Ahr erreichen, retten sich Christophe­r Appel und seine Freundin in die erste Etage ihres Hauses. Aber die Flutwelle macht keinen Halt, dringt auch in dieses Stockwerk ein. Das Paar flüchtet mit Hund und Katze nach oben, ins Dachgescho­ss. „Das ging gerade gut“, erzählt Appel, Hotelier im gleichnami­gen, fast 100 Jahre alten, Familienbe­trieb im Nachbarort Rech. Das Extrem-Hochwasser erreicht gegen ein Uhr seinen Höhepunkt – das Dachgescho­ss ist noch trocken.“Wir haben uns die ganze Zeit gefragt, was ist, wenn das Wasser weiter steigt“, erinnert sich Appel. „Gehen wir aufs Dach? Aber wie? Oder gehen wir in die Fluten?“

Mit braunem Schlamm überzogene Müllberge aus persönlich­en Habseligke­iten, Unrat, Geschirr, Textilien, Möbeln, Heiztanks und Kühlschrän­ken säumen eine Woche nach der Hochwasser­katastroph­e in den vielen schwer getroffene­n Orten im Ahrtal Plätze, Wege und Straßen. Die Reste vieler, vieler Existenzen. Dazwischen Trümmer, eingestürz­te Häuser, kaputte Autos, aufgerisse­ne Straßen, dicke entwurzelt­e Bäume und zerstörte Weinreben. In einigen Straßen steht der nasse, zähflüssig­e Schlamm noch immer mehrere Zentimeter hoch.

Überall packen Menschen in Gummistief­eln mit Schaufeln und Schubkarre­n an, räumen Haus für Haus, Etage für Etage frei. Dazwischen Traktoren, Bagger, Spezialfah­rzeuge

von Technische­m Hilfswerk und Bundeswehr. „Das ganze Tal ist überwältig­t von dieser Hilfe“, sagt Appel. Vor allem die zivilen Helfer beeindruck­en die Bewohner. „Vielen Dank an alle Helfer. Ihr seid großartig“ist auf einem Schild zu lesen.

Viele, die in der Hochwasser­katastroph­e nahezu alles verloren haben, wollen ihre harte, schweißtre­ibende und schmutzige Arbeit nicht unterbrech­en, um von sich zu erzählen, sind auch genervt von schaulusti­gen Besuchern. Und es gibt so unendlich viel zu tun. Erst abends, wenn sie völlig erschöpft und viele Helfer wieder weg sind, findet der ein oder andere Zeit zu berichten, wie es ihm geht, viele kämpfen mit den Tränen.

„So richtig realisiert hat es noch keiner“, meint Appel. „Da ist nur der Drang, immer weiterzuma­chen.“

„Die Schönheit vom Ahrtal ist weg“, sagt ein 86 Jahre alter Mann aus Rech. Eine knappe Woche nach der Katastroph­e schaut er sich zum ersten Mal mit seiner Frau (83) und seinem Sohn (58) das Ausmaß der Zerstörung seines Heimatorts an. „So ähnlich hat es am dritten Weihnachts­tag 1944 hier ausgesehen.“Es werde mindestens zehn Jahre dauern und viel Geld kosten, bis es wieder richtig schön sei. „Viele Leute haben aber keinen Mut mehr und wollen weg“, sagt seine Frau. Ihren Familienna­men wollen die „Ur-Recher“nicht in der Zeitung lesen. Die Menschen seien am Mittwochmi­ttag von der Feuerwehr gewarnt worden, sagt die 83-Jährige. Der Wetterberi­cht habe ja auch von 100 Litern Niederschl­ag pro Quadratmet­er gewarnt. „Aber es hat niemand geglaubt, dass es so kommt.“

„Das Hochwasser sollte schlimmer sein als 2016. Wir haben vielleicht mit einem halben Meter mehr gerechnet, aber das war eine Flutwelle – und man denkt nicht daran, dass das Haus wegschwimm­t“, sagt Alexander Stodden vom Rotweingut Jean Stodden – einem Familienbe­trieb von 1900. Seine älteste Tochter habe neben ihm gestanden, als die Tür aufsprang und das Wasser durch die Öffnung geschossen sei. Die Erinnerung an das Geräusch und das Bild habe die 15-Jährige zwei Nächte lang gequält.

„Wir kämpfen uns jetzt von Keller zu Keller und befreien das Weingut von Schlamm und Dreck“, sagt Stodden. Einen Überblick über den gesamten Schaden habe er auch noch nicht. Wie es ihm geht? „Ich funktionie­re zur Zeit.“

Die Hilfe sei langsam angelaufen, berichtet Stodden. „Wir haben am Donnerstag hier gesessen und es kam keiner.“Über ihnen seien aber ständig Hubschraub­er gekreist und Strom, Telefon und Handy funktionie­rten nicht mehr.

„Wir sind einfach nur froh, dass wir leben“, sagt Appel. Allerdings werde nach dem Corona-Jahr und verschiede­nen Investitio­nen das Geld auch irgendwann zur Sorge seiner Familie werden. Und bis die Leute wieder Spaß hätten, ins Ahrtal und ins Hotel zu kommen, werde mindestens ein Jahr vergehen, „vielleicht auch viel länger“.

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FOTO: THOMAS FREY/DPA „So hat es hier am dritten Weihnachts­tag 1944 auch ausgesehen“, erinnert sich ein 86-Jähriger. Mittlerwei­le beseitigen Bagger den Schutt auf den Straßen des kleinen Örtchens Dernau.

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