„Mit Halbwahrheiten und mangelndem Mut sind wir verloren“
Der CDU-Politiker Norbert Röttgen fordert Ehrlichkeit in der Klimapolitik und eine Reform des Katastrophenschutzes
- Der Bundestagsabgeordnete Norbert Röttgen, dessen Wahlkreis von der Hochwasserkatastrophe ebenfalls betroffen ist, fordert ein moderneres Krisenmanagement in Deutschland. „Derzeit haben wir eine Organisation in den Ministerien wie zu Adenauers Zeiten“, sagte der CDU-Außenexperte im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“. Zugleich sprach sich der 56Jährige, der auf Einladung des Abgeordneten Axel Müller in Ravensburg zu Gast war, für mehr „Courage“in der Klimapolitik aus.
Herr Röttgen, Sie treten bei der Bundestagswahl erneut für die CDU im Rhein-Sieg-Kreis an, einem nordrhein-westfälischen Landkreis an der Grenze zu Rheinland-Pfalz. Wie ist die Situation bei Ihnen zu Hause?
Die Lage ist in zwei Gemeinden von neun, die meinen Wahlkreis bilden, verheerend. In der Stadt Rheinbach, wo ich aufgewachsen bin, und in der Gemeinde Swisttal hat die Naturkatastrophe voll zugeschlagen. Zehn Menschen sind gestorben, Brücken, Straßen und Häuser wurden zerstört. Auf den Straßen liegen Berge von Mobiliar, verschlammte Tische und Stühle, Einrichtungsgegenstände, die jetzt Müll sind. Die Menschen sind verzweifelt wegen des Verlusts ihrer Habseligkeiten und der Basis ihrer wirtschaftlichen Existenz. Viele Ladeninhaber hatten nach den schwierigen Pandemiemonaten gut gefüllte Lager im Keller, das ist jetzt alles kaputt. Es hat mich wirklich mitgenommen, das zu sehen.
Wie sehr wurde die Infrastruktur in den betroffenen Gebieten zurückgeworfen?
Die gesamte Flutkatastrophe hat Milliardenschäden angerichtet, das ist eine Katastrophe von nationaler Dimension. Aber jetzt geht es erst einmal darum, ganz konkrete Hilfe zu leisten. Den Menschen, vor allem auch älteren, zu helfen, die nicht mehr in ihren Häusern wohnen können, die nicht wissen, wo sie jetzt unterkommen sollen. Auch Hauseigentümer, die ihr Haus nicht versichert haben oder nicht versichern konnten, hoffen auf Hilfe. Viele Gewerbetreibende und Geschäftsinhaber stehen vor der Frage, ob sie überhaupt wieder anfangen sollen. Wir müssen uns fragen, wie wir die zerstörte Infrastruktur anders aufbauen können, damit das nicht wieder so passiert. Was die Menschen brauchen, sind Soforthilfen und Solidarität. Deshalb bin ich froh, dass das Bundeskabinett am Mittwoch den Weg dafür frei gemacht hat, und auch die Bundesländer dazu bereit sind.
Welche Auswirkungen wird die Hochwasserkatastrophe auf die Bundestagswahl und das Wahlergebnis haben?
Das ist schwer einzuschätzen. Auf der einen Seite sehen die Menschen, dass die Hilfe und die Koordination der Hilfe zwischen Feuerwehr, Technischem Hilfswerk, Polizei, Land, Bund und Bundeswehr sehr gut funktioniert haben. Das ist ein starkes Erlebnis der Solidarität. Auf der anderen Seite stehen Frustration und auch eine gewisse Perspektivlosigkeit. Das könnte natürlich politische Folgen haben.
Wie wirkt in dieser Situation der Auftritt des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet, der bei einer Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Gelächter ausbrach?
Er hat sich für diesen persönlichen Fehler mehrfach entschuldigt. Diese Entschuldigung war nötig und richtig, aber für mich ist es damit dann auch erledigt.
Teilen Sie die Kritik, dass die Bevölkerung in den Hochwassergebieten zu spät gewarnt wurde?
Das müssen wir völlig vorbehaltlos, sorgfältig und auch zügig untersuchen und gegebenenfalls Schlussfolgerungen ziehen. Aber nicht nur die Hochwasserkatastrophe, sondern auch die Corona-Pandemie hat uns gezeigt, dass wir den Schutz der Bevölkerung anders organisieren müssen in der nächsten Bundesregierung. Wir brauchen eine ressortübergreifende Krisenvorschau und Krisenprävention. Derzeit haben wir eine Organisation in den Ministerien wie zu Adenauers Zeiten. Auch wissenschaftliche Expertise muss besser eingebunden werden. Wie wir aufgestellt sind, ist nicht mehr angemessen in Anbetracht der Komplexität und der neuen Qualität von Gefahrenlagen, die uns national und international herausfordern.
Sehen Sie auch im Föderalismus ein Hindernis, um schnell und angemessen auf Krisen reagieren zu können?
Nein. Ich sehe keinen empirischen Beleg dafür, dass ein zentralistisches
Nordrhein-Westfalen ist eher Bremser in der Klimapolitik, selbst innerhalb der CDU.
Das ist ein Streit der Vergangenheit. Wir haben jetzt den gesellschaftlichen Konsens, dass dieses Land als erfolgreiches Wirtschaftsland klimaneutral werden will. Die neue politische Frage ist: Wer kann das am besten?
Und wer kann es am besten? Die CDU?
Ja. Das ist eine riesige Aufgabe, die ein Höchstmaß an Kompetenz und Courage erfordert. Ohne diese Courage und Führungsbereitschaft werden wir unsere klimapolitischen Ziele nicht erreichen. Es gibt keine Blaupause dafür, wie es zu schaffen ist, von 40 Prozent Kohlendioxideinsparung auf 100 Prozent Reduktion zu kommen. Das ist eine so kolossale Aufgabe, dass die Sorge begründet ist, die Politik könne davor zurückschrecken, wenn sie nur im Zeithorizont der nächsten Landtagswahl denkt. Aber die Lage ist so ernst, dass das keine Option ist. Wir sollten uns daran erinnern, was in der ersten Welle der Corona-Pandemie geholfen hat: Ehrlichkeit, wissenschaftliche Beratung, verständliche Erklärungen und Transparenz. Mit Halb
In den vergangenen eineinhalb Jahren hat die Corona-Pandemie unseren Blickwinkel auf das Geschehen in Deutschland verengt. Profitieren davon Staaten wie China und Russland im Wettstreit mit der westlichen Welt?
Das trifft vor allem für China zu. China hat die Pandemie systematisch und konsequent genutzt, um nachzuweisen, dass sein System dem freiheitlichen westlichen überlegen ist. Das Land ist dazu übergegangen, ganz offensiv Pandemiediplomatie zu betreiben, etwa durch Maskenund Impfstofflieferungen, die aber geknüpft wurde an politische Dankbarkeitserwartungen. Dabei ist der chinesische Impfstoff viel schwächer in der Wirkung und nach Erkenntnissen der USA gegen die Delta-Variante weitgehend wirkungslos.
Was will Deutschland dem entgegensetzen?
Unsere Aufgabe besteht darin, unsere Schwächen, die sich unter dem Brennglas der Pandemie deutlich gezeigt haben, zu bilanzieren und abzustellen. An erster Stelle müssen wir unseren digitalen Rückstand angehen, aber auch staatliche Missstände im Krisenmanagement. Klar ist, dass der Wettbewerb schärfer und stärker wird, und wir uns viel konsequenter darauf einstellen müssen. Wir leben zu sehr von den Erfolgen der Vergangenheit und nehmen diese neue Realität noch zu wenig wahr.