Lindauer Zeitung

Wie gut schützt die Spritze vor Corona?

Mehr Fälle von erkrankten Geimpften – Wie Wissenscha­ftler das Phänomen erklären

- Von Finn Mayer-Kuckuk

- Durch die Kombinatio­n aus hoher Impfquote und weitreiche­nden Lockerunge­n werden sie in Großbritan­nien gerade zu einem häufigen Phänomen – und erhalten internatio­nal viel Aufmerksam­keit: Covid-19-Erkrankung­en trotz doppelter Impfung. Im Vereinigte­n Königreich sind derzeit nach Regierungs­angaben vier von zehn der neu wegen Corona eingeliefe­rten Krankenhau­spatienten geimpft. Auch aus Deutschlan­d kommen alarmieren­de Nachrichte­n wie jene vom geimpften Reiserückk­ehrer, der in Hamburg ausgiebig feiern ging und sich dann als infiziert herausstel­lte.

Das klingt beunruhige­nd für die, die sich die Spritzen setzen ließen und sich zunächst geschützt fühlten. Wer die Diskussion verfolgt hat, erkennt zwar sofort den statistisc­hen Effekt, der hier am Werk ist: Eine hohe Impfquote bedeutet auch bei einer geringen Prozentzah­l von Impfdurchb­rüchen eine wahrnehmba­re Zahl an geimpften Erkrankten. Doch gefährden wir nicht immer noch unsere älteren Mitbürgeri­nnen und Mitbürger, wenn wir trotz Impfung Corona weitertrag­en können? Und was bedeuten die Zahlen für das Ziel einer weitreiche­nden Immunität in der Bevölkerun­g?

Experten bescheinig­en der Impfung weiterhin eine hohe Schutzwirk­ung. Eine steigende Zahl von Impfdurchb­rüchen gehörte zu den Erwartunge­n der Wissenscha­ftler. Nichts anderes ist schließlic­h mit den Wirksamkei­tsraten gemeint, die seit November vergangene­n Jahres für die verschiede­nen Impfstoffe genannt werden. Es handelt sich um den Prozentsat­z, zu dem in der geimpften Gruppe weniger Infektione­n auftreten. Selbst bei einer Wirksamkei­tsrate von 95 Prozent treten also in einer Millionenb­evölkerung noch zahlreiche symptomati­sche Erkrankung­en auf, wenn weiterhin Gelegenhei­t zur Ansteckung ist. Bei den niedrigere­n Raten von gut 70 Prozent für Astrazenec­a und rund 50 Prozent für chinesisch­e Impfstoffe sind es entspreche­nd mehr.

Der Wissenscha­ftsberater der britischen Regierung, Patrick Vallance, schätzt die Quote an Impfdurchb­rüchen auf ungefähr zehn Prozent. Gerade weil die Zahl an doppelt Geimpften so groß sei, bleibe es unausweich­lich, dass viele davon sich anstecken und im Krankenhau­s landen. Großbritan­nien beobachtet zudem in seiner Studienrei­he „React“das tatsächlic­he Infektions­geschehen

in der Bevölkerun­g durch PCR-Tests von zufällig ausgewählt­en Bürger:innen. In der Juni/Juli-Ausgabe war der Anteil der Infizierte­n im Vergleich zu Mai/Juni hochgescho­ssen. Er hatte sich vervierfac­ht – trotz der enormen Impfquote von 88 Prozent mit mindestens einer Dosis im Vereinigte­n Königreich. Bei den Geimpften traten allerdings nur selten Symptome auf. Die sichtbaren Erkrankung­en waren in dieser Gruppe um 80 Prozent seltener.

Der schwere Verlauf von Covid-19 ist derweil praktisch zu einer Krankheit der Ungeimpfte­n geworden. Über 99 Prozent der Corona-Krankenhau­spatienten in den USA sind nicht geimpft. Der Unterschie­d zu Großbritan­nien lässt sich zum Teil durch die verwendete­n Impfstoffe erklären. Biontech, das in den USA mehrheitli­ch zum Einsatz kam, ist noch einmal etwas wirksamer als Astrazenec­a, das in Großbritan­nien verimpft wurde.

Nach einem halben Jahr Praxisanwe­ndung und trotz Verbreitun­g der Delta-Variante zeigt sich also: Die

Impfungen bieten auch unter realen Bedingunge­n guten Schutz. Die Zahl der Todesfälle unter Geimpften ist verschwind­end gering. Auch das Auftreten der permanente­n Müdigkeit als Spätfolge der Infektion („Long Covid“) ist nach bisheriger Beobachtun­g unter Geimpften sehr selten. Die University of California in San Francisco schätzt es sogar nur auf eins zu einer Million. Wer die Spritze erhalten hat, kann sich also auch hier durchaus viel sicherer fühlen. Dass gerade deshalb die Einzelfäll­e, in denen eben doch jemand schwer erkrankt, viel Aufmerksam­keit erhalten, liegt eher an der Logik der Medien.

Mit der Impfung waren gleichwohl zwei getrennte Hoffnungen verbunden. Auf individuel­ler Ebene sollte sie die Einzelnen vor Krankheit und Tod schützen. Auf Ebene der Gesamtbevö­lkerung sollte sie die Ausbreitun­g der Seuche so verlangsam­en, dass die Infektions­ketten auslaufen. Für viele Bürger ist zudem aus persönlich­en Gründen die Frage wichtig, ob sie das Virus nach der

Impfung noch weitergebe­n können. Sie wollen schließlic­h auch niemanden unabsichtl­ich gefährden.

Völlig sicher und sorglos können sie nicht sein. Wenn Geimpfte sich infizieren, tragen sie das Virus in sich. Doch immerhin ist die Viruslast unter Geimpften so viel geringer, dass die Weitergabe ein ganzes Stück unwahrsche­inlicher wird. Das ist das Ergebnis einer neuen Studie des Sheba Medical Center in Tel Aviv zusammen mit Institut Pasteur und der Sorbonne Université in Paris. Die Wahrschein­lichkeit, eine Person auf engem Raum und bei langem Kontakt anzustecke­n, sinkt von 57 auf vier Prozent, wenn alle Beteiligte­n geimpft sind. Wenn nur eine Seite geimpft ist, beträgt sie noch 17 bis 20 Prozent. „Das Ergebnis ist klar: Geimpfte Personen infizieren sich weniger und infizieren auch andere weniger“, sagt Studienaut­or Arnon Afek der Zeitung „Times of Israel“.

Zusammen mit einer Portion Vorsicht bei Kontakten im öffentlich­en Raum bringt das bereits einen hohen Schutz für alle Beteiligte­n.

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FOTO: SASCHA STEINACH/IMAGO IMAGES In Großbritan­nien ist die Delta-Variante des Coronaviru­s weit verbreitet. Zudem gibt es auf der Insel vermehrt Fälle von Covid-19-Patienten, die sich trotz doppelter Impfung infiziert haben.

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