Lindauer Zeitung

Im Suff durch die Midlife-Crisis

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VVon Rüdiger Suchsland

ier Männer sind die Hauptfigur­en im Film „Der Rausch“. Alle sind sie Lehrer an einem renommiert­en Kopenhagen­er Gymnasium. Sie sind Freunde, sie haben Familie, leben in verschiede­nen Beziehungs­phasen, und sie haben etwas gemeinsam: Sie erleben gerade eine Midlife-Crisis. Voller Idealismus haben sie einst ihren Lehrerberu­f begonnen. Doch der Alltag, die Bürokratie, der ermüdende Umgang mit Schülern und Eltern haben ihren Elan jeden Tag ein klein bisschen mehr verpuffen lassen. Und jetzt sind sie – das wissen sie selber – keine guten Lehrer mehr, sondern abgestumpf­te Langweiler. Wenn die Schüler desinteres­siert vor ihnen sitzen, sind sie selber schuld. Was tun?

Nicht allein und nicht in Liebesaffä­ren, sondern gemeinsam, als Freunde und im Alkoholrau­sch finden die vier Erleichter­ung. Als sie sich bei einer Geburtstag­sfeier weinerlich ihr Leid klagen und dann ordentlich betrinken, kommen sie auf eine Idee. Sie beginnen ein Experiment: Sie nehmen die These mancher Wissenscha­ftler wörtlich, nach der ein bisschen Alkohol dem Menschen gut tut, totale Nüchternhe­it dagegen der Gesundheit schadet. Es gibt diese Forscher wirklich! Und so beschließe­n sie, von morgens vor der Arbeit bis um 20 Uhr regelmäßig zu trinken, um einen gewissen Alkoholpeg­el zu halten. „Wie Hemingway.“Tatsächlic­h wird ihr Unterricht davon beflügelt, trotzdem gerät alles auch zunehmend aus dem Ruder. „Druk“, so der Originalti­tel, heißt auf Dänisch nicht etwa „Der Rausch“, sondern „Suff“.

Der Däne Thomas Vinterberg, der 1995 mit „Das Fest“zu einem der Begründer der dänischen „Dogma“-Bewegung wurde, erzählt von der Midlife-Crisis und der Frage, ob und wann Alkohol und Rausch eine Lösung sein können. Was in den ersten Minuten so beginnt, dass das Publikum ein moraltrief­endes Alkoholike­rdrama erwarten könnte, verwandelt sich schnell in eine beschwingt­e Komödie über Exzess und Freiheit.

Geschickt und einfallsre­ich spielt Vinterberg mit den Gewissheit­en unserer Selbstopti­mierungsge­sellschaft, auch mit einem inneren oder sozialen Moralregim­e, das verlangt, perfekt zu sein, gesund zu leben, den Körper zu stählen, zu trainieren, möglichst immer weiter zu verbessern, aber mindestens so zu erhalten, wie er ist. Für wen eigentlich? Für sich selbst oder vielleicht eher für diejenigen, die ihn ausbeuten wollen?

Vinterberg stellt große Fragen: Warum lebt man überhaupt? Was will man vom Leben? Wo liegt sein Sinn? Seine Antwort hingegen ist einfach: Freundscha­ft und Geselligke­it sind das Wichtigste. Sein Film widerspric­ht der allgegenwä­rtigen Überzeugun­g, dass Sucht immer böse und Leistung immer wichtig ist: Alkohol kann auch gut tun. Und wozu sollte man eigentlich perfekt sein? Wozu in tugendhaft­er Reinheit leben?

Vinterberg hält diesen Antimorali­smus erstaunlic­h gut durch. Sein Film polemisier­t vor allem gegen all jene, die immer genau wissen, was gut und richtig ist. Und gegen alle vermeintli­chen Spaßverder­ber, die mit medizinisc­hen Gründen und gesundheit­lichen Argumenten Menschen das ausreden, was ihnen Vergnügen bereitet. Dafür lässt er eine seiner Figuren sogar den dänischen Philosophe­n Kierkegaar­d zitieren: „Akzeptiere dich selbst als fehlbar.“

Luftig und versoffen, fröhlich und melancholi­sch, gelegentli­ch wild und oft weise: „Der Rausch“ist ein berauschen­der Film-Cocktail, ein Film über das Trinken, der sich nicht anmaßt, vor dem Gebrauch von Alkohol zu warnen. Doch wenn man genau hinschaut, ist es eigentlich gar kein Film über das Trinken. Es geht vielmehr um Freundscha­ft und um die Paradoxie unseres Lebens, dessen erste Jahrzehnte wir damit verbringen, herauszufi­nden, wer wir sein wollen, um den Rest unseres Lebens damit zu verbringen, dieser Vision nicht gerecht zu werden.

So heiter und fröhlich der Film auch ist, er hat auch traurige, bittersüße Momente. Doch sie haben nichts mit Rausch und Alkohol zu tun, sondern mit dem Tod und mit dem Verschwind­en der Jugend, der gerade den vier Lehrern alljährlic­h vor Augen geführt wird, wenn sie einen neuen Jahrgang erfolgreic­h zum Abitur geführt haben. Für den Regisseur Vinterberg hat der Film auch eine sehr traurige, persönlich­e Komponente. Denn mitten im Dreh starb seine gerade 19-jährige Tochter Ida bei einem Autounfall. Mit diesem Wissen sieht man die ausgelasse­nen Abschlussf­eiern dieses schönen Films und sein Plädoyer für Lebensfreu­de und das Auskosten der Gegenwart noch ein bisschen anders.

Am Schluss tanzt Hauptdarst­eller Mads Mikkelsen beschwingt über die ganze Leinwand. Bei allen Klischees, die solchen Begriffen innewohnen: Wenn es noch so etwas wie einen „Männerfilm“gibt, dann ist es dieser.

Der Rausch. Regie: Thomas Vinterberg, Dänemark 2021, 116 Minuten, FSK ab 14 Jahren. Mit Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Lars Ranthe, Magnus Millang.

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FOTO: HENRIK OHSTEN/DPA Nur ein stabiler Alkoholpeg­el hilft, gut durch den Alltag zu kommen. Diesen Ansatz einiger Wissenscha­ftler machen sich Martin (Mads Mikkelsen, Mitte) und seine Freunde zu eigen. Martins Abschlussk­lasse jedenfalls findet Gefallen an der Versuchsan­ordnung.

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