Geisterspiele im olympischen Gefängnis
Das Mega-Sportspektakel findet nur für Fernsehen und Funktionäre statt – Strikte Kontrollen und absurde Regeln statt ausgelassenem Spaß
- Wenige Stunden vor den Spielen knistert es in Tokio. Und das liegt nicht nur an den Temperaturen von nahe 40 Grad im Schatten und der Hitzewarnung der Behörden. Die Stimmung in der Olympiastadt ist emotional aufgeladen wie vor einem heftigen Gewitter – wobei niemand wissen kann, ob und wann sich das Unwetter entlädt. Die meisten Menschen in der japanischen Mega-Metropole empfinden immer mehr Unbehagen über die Umstände der bevorstehenden Spiele. Eine deutliche Mehrheit lehnt das Weltereignis generell, aber auch wegen der massiven Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheitsrechte vehement ab.
Hinzu kommt die nationale
Angst vor einer von außen forcierten Corona-Welle. Jeden Tag werden neue Fälle positiver Virustests gemeldet bei Olympiateilnehmern in Trainingslagern außerhalb und selbst im hermetisch abgeriegelten olympischen Dorf. Auch deshalb schlägt vielen Sportlern und Funktionären aus aller Welt unterschwelliger und zuweilen sogar offener Hass entgegen. Von der eigentlich sprichwörtlichen japanischen Gastfreundschaft ist kaum noch etwas zu spüren.
Immerhin registriert diesen Unmut nun auch das gewöhnlich ignorante Internationale Olympische Komitee. IOC-Präsident Thomas Bach räumte bei einer Pressekonferenz am Samstag erstmalig ein: „Wir wissen um die Skepsis vieler Japaner.“Es ist aufschlussreich, wenn der Chef der olympischen Ringe und stärkste Befürworter dieser Spiele die Gastgeber anfleht, „weniger emotional, um nicht zu sagen, weniger aggressiv“zu sein.
Aber auch Bach muss einräumen, dass Olympia Tokio ein „komplexes“, vor allem jedoch das am meisten eingeschränkte Sportereignis „nicht nur in Japan, sondern in der ganzen Welt“sein wird. Es zeichnet sich ab, dass selbst ein ausgeklügeltes System von Verboten und Kontrollen in der vorgeschriebenen „olympischen Blase“keinen verlässlichen Schutz bieten wird. Das Eindringen des CoronaVirus in die rund 15 000-köpfige Sportlergemeinde kann wohl niemand verhindern.
Selbst die mächtigsten einheimischen Sponsoren ziehen sich angesichts dieser Risiken und der allgemeinen Abneigung zurück. Die Chefs der Industriegiganten NEC, Fujita und NEC haben ihre Teilnahme an der Eröffnungsfeier bereits abgesagt. Am deutlichsten distanziert sich der Top-Geldgeber Toyota von diesem Event. Vorbereitete Werbespots werden nicht ausgestrahlt – aus Angst vor einem negativen Image. Diese Spiele würden auf „viel Unverständnis stoßen“, ließ der Weltkonzern das IOC wissen. Auch Toyota-Lenker Akio Toyoda meidet die Eröffnungszeremonie am Freitag. Wenigstens Japans Kaiser Naruhito wird kommen, um die Spiele zu eröffnen, Kaiserin Masako wurde jedoch vom Palast ausgeladen, um die Zahl der Ehrengäste zu senken.
So wie es jetzt aussieht, gestaltet sich das Fest der Weltjugend zu einer seelenlosen Farce vor leeren Rängen und virtuell erzeugter Scheinatmosphäre. Weil echte Zuschauer die Wettkämpfer nicht anfeuern dürfen, plant das IOC die Arenen durch eine Geräuschkulisse von früheren Olympischen Spiele – vorrangig aus Rio de Janeiro – mit Leben zu erfüllen. Die Sportler bekämen so das Gefühl, vor einer realen Kulisse um Medaillen zu kämpfen, glaubt Thomas Bach. Ausgewählte Athleten – nach welchem Prinzip eigentlich? – könnten die Möglichkeit erhalten, sich von ihren Freunden und Familienmitgliedern anfeuern zu lassen. Offenbar will das IOC selektieren, wer für das Fernsehen werbeträchtig genug ist, um Unterstützung von außen zu erhalten.
Aber auch ansonsten werden viele der strengen Auflagen von den Olympiateilnehmern immer wieder durchbrochen. Fotos in japanischen Medien zeigen Sportler, wie sie maskenlos in der Öffentlichkeit Alkohol trinken. „Es gibt ein großes Loch in der Olympiablase“, beklagt der Oppositionspolitiker Takeshi Saiki. „Wie will die Regierung unter diesen Umständen die sicheren Spiele garantieren, die Premierminister Yoshihide Suga und das IOC der Bevölkerung versprochen haben?“
Es ist schon lange nicht mehr wirklich lustig in Tokio. Bis vor Kurzem durfte man hier zwar in Restaurants und Bars mal wieder Alkohol trinken. Aber bitte nur zwischen 11 und 19 Uhr, ganz allein oder maximal zu zweit. Restaurants sollten generell um 20 Uhr schließen. Jetzt gilt wieder der verschärfte Notstand für die gesamte Megametropole – der mittlerweile vierte – also gänzlich kein Wein, Bier, Karaoke und vor allem ohne irgendwelche sozialen Kontakte. Es ist damit zu rechnen, dass die Staatsmacht in den kommenden Tagen härter als bisher durchgreifen wird, um eine Jahrhundertpandemie zu vermeiden.
Mit einem bisher weltweit einmaligen Sicherheitskonzept, strikten Hygiene-Vorgaben sowie extrem scharfen Verhaltensregeln sollen die eigene Bevölkerung und die Teilnehmer aus aller Welt für die zweiwöchigen Spiele sowie die anschließenden Paralympics „geschützt“, de facto jedoch vor allem in Schach gehalten werden. Die allgegenwärtige Furcht vor den Fremden führt zuweilen zu extremen Ideen. So standen in Fahrstühlen eines Tokioter Hotels Schilder mit der Aufschrift „Nur für Japaner!“.
Nachdem schon im März die Einreise für alle ausländischen Fans untersagt wurde, sind jetzt selbst die Japaner als Zuschauer verbannt worden. Das Sportspektakel findet praktisch nur fürs Fernsehen und für die Funktionäre statt. Immerhin sind die Athleten noch zugelassen, allerdings ist auch hier ziemlich Schluss mit lustig. So stehen nach einer dreitägigen Quarantäne tägliche Corona-Tests auf der Tagesordnung. Um Kontakte zu den Einwohnern der Millionenstadt zu unterbinden, dürfen Sportler und Funktionäre nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, selbst Taxis sind verboten. Sie können nur die offiziellen OlympiasShuttles nutzen.
Aktive, Betreuer und Journalisten sollen sich lediglich zwischen Stadien, den ausgewählten Hotels sowie dem olympischen Dorf bewegen. Sie dürfen maximal fünf Tage vor Beginn ihrer Wettbewerbe ins Dorf einziehen und müssen zwei Tage danach wieder verschwinden, so schwebt es dem Bürgermeister des olympischen Dorfes, Saburo Kawabuchi, und seinen Leuten vor. Masken sind überall Pflicht mit Ausnahme der Mahlzeiten, beim Training und bei direkten Wettkämpfen. Generell wird eine strikte, vorgegebene Tagesplanung verlangt, die auch abgehakt und kontrolliert wird.
In den offiziellen olympischen Stätten kommt es schon jetzt zu grotesken Erscheinungen. Die längsten Schlangen bilden sich ausgerechnet vor den wenigen Raucherinseln, wo maximal sechs Personen auf einmal zugelassen sind. Alkohol ist nach vielen Diskussionen nun zumindest im „Dorf“erlaubt, aber die Sportler sollen strikt allein trinken, was mit einer Medaillenfeier schwerlich zu vereinbaren ist. „Aber wir müssen eine Menge strenge Auflagen erheben“, rechtfertigt sich der Bürgermeister. Er stößt auf Widerstand. „Das ist kein olympisches Dorf, sondern ein olympisches Gefängnis“, liest man immer häufiger in den sozialen Netzwerken.
Dieses strikte Regime wird weiteren Widerstand gegen die ohnehin ungeliebten Olympischen Spiele
ANZEIGE herausfordern. „Schon jetzt behandeln die Regierung und die Organisatoren Besucher als potentielle Kriminelle“, kritisiert Soziologieprofessor Chizoku Ueno. Die Behörden planen sogar, an öffentlichen Punkten wie Hotels Polizeispitzel zu stationieren. „Wir werden jeden Ein- und Ausgang kontrollieren und ein System einsetzen, das niemandem erlaubt, sich in der Öffentlichkeit frei zu bewegen“, droht Japans Olympia-Minister Tamayo Marukawa. Ziel dieser oft schikanösen Maßnahmen ist die strikte Trennung von Olympioniken und Einheimischen. Hotels sind aufgefordert, Ausländer und Japaner niemals zusammen in ein Restaurant zu lassen. Seit Tagen steigen besonders in Tokio die Corona-Infektionszahlen, haben zum Wochenende ein neues Halbjahres-Hoch erreicht. Dagegen sind bislang nur knapp 20 Prozent der 126-Millionen-Bevölkerung vollständig geimpft. Ein verspäteter Start, zögerliche Zulassungen, und neuerdings Vakzin-Engpässe lassen die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt im internationalen Vergleich alt aussehen.
Vorsorglich bereitet sich die Polizei in Tokio auf eine Eskalation der schlechten Stimmung vor, erwartet Demonstrationen bis zu gewalttätigen Protesten. Sicherheitsexperten warnen, dass Kritiker der Spiele wahllos Gewalttaten ausüben könnten. Auch immer mehr japanische Olympiateilnehmer wie Ken Noguchi bezweifeln den Geist dieser Spiele, „die nichts anderes sind als ein Business für das IOC“. Die Herrschaft des Sicherheitsapparates, der mit Apps und GPS-Tracking operiert, hat das eigentlich liberale Land während der Spiele in ein autoritäres Regime verwandelt, das viele Japaner und Gäste eher mit China oder Nordkorea vergleichen.