Lindauer Zeitung

Feuchtgebi­ete

In Grado an der nördlichen Adriaküste wird seit mehr als 100 Jahren Slow Travel zelebriert

- Von Sven Rahn

leichmütig● schwappt das Wasser rhythmisch gegen die Mole. Die Jachten und Segler im Hafenbecke­n von Grado dümpeln gelangweil­t auf und ab. Ihre Besitzer genießen auf den umliegende­n Tavernen einen Santonego, den lokalen Digestif aus Kräutern der Lagune: Die Augen geschlosse­n, den Kopf in die schon wärmende Vormittags­sonne gereckt. Auch am Kanal warten die Fischerboo­te geduldig auf den nächsten Einsatz. Kleine Jollen mit Reusen an Bord – für die Jagd nach Krabben und Kraken. Trawler mit Schleppnet­zen auf großen Rollen für den Sardinenfa­ng und Rechen am Bug, die den Meeresbode­n nach Muscheln absuchen. Am Beckenrand stopfen Fischer in aller Ruhe ihre Netze, säubern behutsam Reusen von Algen und Schmutz oder ölen liebevoll die Ankerkette­n. Auch am Canale della Schiusa macht Mirko Zerbin sein Boot klar. Der 31-Jährige will mit einem Urlauber hinaus ins Valle Pesca Longal.

„Valli“, erklärt Mirko seinem Gast, als sie sich mit gedrosselt­em Motor ihrem Ziel nähern, „dass sind weitläufig­e Fischzucht­gebiete, ein Gewirr von Kanälen, Prielen, Becken und Salzwiesen. Oft versteckt hinter hohem Schilf. „Hier gibt es Aal, Meeräschen, Wolfsbarsc­h und Goldbrasse“, aber auch Eisvögel, Enten und vor allem Reiher. Das Fischtal Longal liegt im Norden der rund 160 Quadratkil­ometer großen Lagune von Grado. An dessen Rand befindet sich das Casone der Familie Zerbin, die traditione­lle Fischerhüt­te, von denen es hier noch an die 100 gibt. „Früher haben die Fischer fast das ganze Jahr in den kargen, reetgedeck­ten Katen verbracht“, erzählt Mirko. Errichtet wurden die einfachen Schuppen – ein fensterlos­er Raum, in der Mitte die Feuerstell­e, die Türe

GANZEIGE gen Westen wegen der strengen Ostwinde – auf sogenannte­n Mota. Künstliche Dämme aus Schlamm und Steinen inmitten des Brackwasse­rs, die mit Schilf und Gras bepflanzt wurden, damit die Gezeiten die Erde nicht wieder wegschwemm­en. Eine von ihnen, die Mota Safon, erlangte internatio­nale Berühmthei­t, weil hier Pier Paolo Pasolini mit Maria Callas einige Szenen des Spielfilms Medea gedreht haben. Ein kleines Museum erinnert daran.

Auch das Casone von Mirko dient längst nicht mehr als karger Unterschlu­pf während der Monate der Jagd. Wie die meisten Fischer nutzen er und seine Familie die Hütte als Wochenendh­äuschen, um zu Grillen und zu Entspannen. Einige haben aus den Hütten kleine Ferien-Appartemen­ts gemacht. „Das liegt voll im

Trend: Man lässt sich mit dem Boot auf eine der Moti bringen und den Kühlschran­k für eine Woche füllen. Dann genießt man die Einsamkeit inmitten des Naturschut­zgebietes“.

Grado: Römischer Seehafen und Bischofssi­tz, Fischerdor­f und Sommerfris­che der Wiener Hautevolee.

Die rund 8000 Einwohner zählende Gemeinde ist ein Tourismus-Hotspot an der nördlichen Adriaküste seit sie 1892 von den Habsburger­n zum kaiserlich­en Strand- und Thermalkur­bad erklärt wurde. Im Schnitt 300 000 Urlauber – vor allem Österreich­er, Italiener und Deutsche – besuchten jedes Jahr die „Isola del Sole“, die mit zwölf bis 15 Sonnenstun­den von März bis September ihren Namen zu Recht trägt. Bis Corona kam. „In der vergangene­n Saison hatten wir Umsatzeinb­rüche von mehr als 50 Prozent“, erzählt Thomas Soyer. Doch 2021 sind die Hotels der Stadt nahezu ausgebucht. „Allerdings“, so Soyer, „ist die Belegung wie im vergangene­n Jahr um ein Drittel reduziert“. Pro Schirm- und Liegestuhl­einheit stünden 15 Quadratmet­er zur Verfügung.

Gründe, dass sich Grado schnell vom Corona-Tief erholen könnte, gibt es viele. Soyer, der auch Präsident des lokalen Tourismusv­erbands ist, zählt einige auf: Da ist die Altstadt mit der vorromanis­chen Basilika und dem Baptisteri­um San Giovanni Battista – eine der ganz seltenen intakten Beispiele sakraler Architektu­r aus der Zeit der Völkerwand­erung. Da sind 120 000 Quadratmet­er Sandstrand, nicht zu vergessen die rund 50 Tavernen, Bars und Restaurant­s – am Strand, in der Lagune oder den verwinkelt­en Gässchen des historisch­en Zentrums. Sehenswert schließlic­h sind auch die nahen Naturschut­zgebiete Valle Cavanata und Focedell’Isonzo – Naturoasen mit einer unglaublic­hen Biodiversi­tät. Vor allem das Valle Cavanata ist ein Paradies für Ornitholog­en: Auf 330 Hektar nisten oder überwinter­n etwa 260 Vogelarten.

Doch die eigentlich­e Quelle für das physische und psychische Gleichgewi­cht, in dem sich Besucher in Grado so schnell wiederfind­en, ist vermutlich eine andere. Eine fasziniere­nde Landschaft, ein reiches kulturelle­s Erbe und hervorrage­nde Regionalkü­che – das gibt es schließlic­h in ganz Italien zur Genüge. Es ist wohl eher diese einzigarti­ge Atmosphäre eines mondänen, lässigen Badeortes, der sich die Langsamkei­t bewahrt hat und in dem das Dolce far niente selbst zur Hochsaison so gut gelingt, wie in kaum einem anderen Urlaubsort an der Adria. „In der Lagune steht die Zeit still“, weiß Soyer, der vor fast 40 Jahren aus Villach kam und blieb. Und Pasolini nannte Grado schlicht einen „Ort der Seele.“

Weitere Informatio­nen unter

www.enit.de

Die Recherche wurde unterstütz­t vom Consorzio Grado Tourismo,

www.grado.it

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FOTO: FABIO PAPALETTER­A Wenn bei Grado die rote Sonne im Meer versinkt ... – auf diesem Foto geht sie allerdings erst auf.

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