Blut, wohin man schaut
Arrigo Boitos Oper über den dekadenten Kaiser Nero eröffnet die Bregenzer Festspiele
Von Werner M. Grimmel
- Arrigo Boitos selten gespielte Oper „Nero“hat die Festspiele eröffnet. Olivier Tambosis opulente Inszenierung zieht Parallelen zwischen dekadenten Umbruchszeiten im alten Rom und in Europa vor dem Ersten Weltkrieg – mit einer aufwühlenden, teils aber auch verstörenden Wirkung.
Trotz derzeit wieder steigenden Inzidenzwerten fand die Eröffnungspremiere am Mittwochabend im vollbesetzten Festspielhaus statt. Wer am Eingang zum Vorplatz den Status „geimpft, genesen oder negativ getestet“nachweisen konnte, durfte ohne Maske oder Einhaltung eines Mindestabstandes Platz nehmen und der fast dreistündigen Aufführung beiwohnen.
Auf Frank Philipp Schlössmanns Bühne drehen sich labyrinthisch verschachtelte Räume. Spiegelwände und Rotlichtflächen erzeugen ein verwirrendes Spiel permanenter Täuschungen, die sich zu einem Horrorkabinett drastischer Bilder steigern. Viel Blut klebt an den Kleidern der Darsteller, die fantasievoll Anspielungen auf römische und biblische Gewänder ebenso wie auf die frühe Mussolini-Zeit mischen (Kostüme: Gesine Völlm).
Schauen wir hier in den Kopf eines gefährlichen Psychopathen, dem es nicht gut getan hat, als Kind alles zu dürfen? In das verwirrte Gehirn eines größenwahnsinnigen Diktators, der moralische Grenzüberschreitungen, Folter, Sadismus und Tod als ästhetische Genüsse feiert? Tambosi will hier „das Menschsein mit allen Teilen von uns“zeigen. Spätestens nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts weckt solches Kokettieren mit einem wertneutralen „Jenseits von Gut und Böse“jedoch Unbehagen.
Boito, 1842 geboren, pflegte schon als junger Künstler und Intellektueller eine Bürgerschreck-Attitüde, feierte freie Liebe und neigte zur Verklärung des Bösen. Das selbst verfasste Libretto koppelt überlieferte und fiktive Episoden aus dem Leben Neros, konfrontiert traditionelle römische Religion und aufkommendes Frühchristentum, thematisiert den Brand Roms und im geplanten fünften Akt den Wahnsinn des Kaisers. Dabei ging es Boito nicht um einen Historienschinken in Opernform. Sein Nero verrät viel über ihn selbst, kommt als Möchtegern-Nietzsche daher, der moralische Werte hinterfragt und den Tod Gottes propagiert. Boito hat quasi lebenslang mit diesem Stoff gerungen, ihn immer wieder beiseite gelegt, aber auch nach mehr als einem halben Jahrhundert nicht in eine endgültige Form zu bringen vermocht.
Erst 1924 – sechs Jahre nach dem Tod des Komponisten – wurde das bereits 1862 begonnene Werk von Arturo Toscanini in einer vieraktigen Fassung aus der Taufe gehoben.
Trotz solch prominenter Fürsprache hat es sich jedoch nicht im Repertoire etabliert. In Bregenz konnte man sich nun Gedanken über die Gründe dafür machen. Könnte es sein, dass Boito mit „Nero“nicht fertig wurde, weil er mit seiner Titelfigur im Unreinen war? Weil er keine Lösung fand für das Problem ihrer Idealisierung? Auch die anderen Figuren des Stücks sind zwiespältige Wesen, die merkwürdig kalt lassen. Boito hat viel hineingepackt in das Stück und wollte „alles richtig und perfekt machen“– und hat sich mit seinem Traum vom vollkommenen Kunstwerk womöglich selbst gelähmt und letztlich überfordert.
Auch musikalisch wirken manche Szenen gekünstelt, andere überdehnt. Der junge Dirigent Dirk Kaftan legt sich am Pult der Wiener Symphoniker mächtig ins Zeug für die Partitur, die vom Gegensatz chromatisch gezeichneter heidnisch-antiker Welt und diatonisch gefärbten, klar strukturierten Religioso-Klängen für das neue Christentum lebt. Dazu kommen atmosphärische Momente in scharfem Kontrast zu brutal einschlagenden Bläser- und Schlagwerkattacken, präfaschistisch anmutendes Pathos bei der Verherrlichung von Gewalt und blasphemisch getönte Kombinationen von Gebetskitsch und frivoler Beschwörung sinnlicher Liebe. Insgesamt fehlt dem Stück die musiktheatralische Schlagkraft des von Boito bewunderten Kollegen Giuseppe Verdi.
Rafael Rojas irrt als geschmeidig singender Nero durch alle Kammern seiner beschädigten Seele. Ihn plagt das schlechte Gewissen wegen der Ermordung seiner Mutter Agrippina. Voller Selbstmitleid stilisiert er sich zum Opfer schicksalshafter Verhängnisse – darunter will er sein banales Verbrechen nicht einstufen. Ein Fall für die Psychiatrie? Brett Polegato wirbt als Prophet Fanuèl mit betörendem Bariton für christliche Liebe. Tambosi zeigt ihn als bärtiglanghaarigen Ersatz-Jesus mit Dornenkrone.
Lucio Gallo als schwarz geflügelter Zauberer Simon Mago ficht seinen vokalen Kampf gegen den sanften Widersacher mit dämonisch intrigierendem Bariton. Flammende Sopranklagen richtet Svetlana Aksenova als Asteria an Nero, nach dessen Grausamkeit sie masochistisch lechzt. Alessandra Volpe als Rubria im Zwiespalt zwischen altem Kult und neuem Nazarenertum, Katrin Wundsam als Cerinto und Pèrside, das restliche Solistenensemble und der Prager Philharmonische Chor tragen zu einer musikalisch eindrucksvollen Aufführung bei.
Weitere Vorstellungen: 25. Juli und 2. August; Programm der Bregenzer Festspiele, Information und Karten: