Alte weiße Männer unter sich
BAP-Gründer Wolfgang Niedecken spielt auf dem Tuttlinger Honberg Bob Dylan
TUTTLINGEN - Solche Abende tragen sonst ja gerne den Titel „Ein Abend mit ...“– charismatischer Künstler, kleiner Rahmen, bescheidener Aufwand. Auf dem Tuttlinger Honberg ist es ein Abend mit – ja, mit wem? Wolfgang Niedecken? Bob Dylan? Wer steht im Mittelpunkt? Nach mehr als zwei Stunden steht fest: der kölsche Dylan, wie er schon genannt wurde. Eigentlich eine Anmaßung. Aber eine, die einen Abend lang trägt, unterhält, Freude bereitet.
Er bringt mit: seine Gitarre, einen Leitz-Ordner und einen versierten Keyboarder, Mike Herting, den er schon seit Vor-BAP-Zeiten kennt, also wirklich sehr lang. Die Texte stammen aus seinem Büchlein über Bob Dylan, das er im vergangenen, aufgrund der Pandemie konzertfreien Jahr – man hat als Musiker plötzlich Zeit – auf Aufforderung des Verlags Kiepenheuer & Witsch geschrieben hat. Jetzt geht er damit auf Tournee. Station Tuttlingen: Openair, lauer Sommerabend, gezählte 482 zugelassene Gäste auf ausverkauften Stühlen plus ein paar auf
Scheinwerfer fokussierte Nachtfalter. Man nennt es „Modellversuch mit Hygienekonzept“oder schöner: „Hope’n’air“.
Die 482 erwartet eine Biografie des Wolfgang N. aus K. unter besonderer Berücksichtigung von Bob Dylan mit einem Exkurs zu Rod Stewart. Er sitzt da erwartungsgemäß: Jeansjacke, Sonnenbrille, die Haare wuschelig – und inzwischen weiß. Niedecken und Dylan: alte weiße Männer unter sich. Liest und spielt Songs aus seiner ganzen Karriere, selbstgeschriebene oder Coverversionen, selbst sein erstes auf Kölsch getextetes Lied, das seinerzeit seiner 93-jährigen Oma gewidmet war. Und nichts, aber auch gar nichts mit Bob Dylan zu tun hatte.
Doch der Dichter aus Duluth im US-Bundesstaat Minnesota war stets Niedeckens Leuchtturm – neben ein paar anderen wie den Rolling Stones. Schon seine erste Langspielplatte „... rockt andere kölsche Leeder“enthält Dylan-orientierte Stücke wie den „Alptraum eines Opportunisten“, den er jetzt auch auf dem Honberg durchlebt. Da tauchen Namen wie „Dregger“und „Löwenthal“auf, die heute nur noch der Generation 60plus etwas sagen – und die merkt, dass dieser Niedecken schon ganz schön lange im Geschäft ist. Der hat noch Lieder geschrieben, in denen er eine Frau ungestraft einen „Schuss“nennen durfte. Heute müsste er das wohl canceln. Zur Strafe versingt er sich in dem Stück sogar einmal – und muss grinsen.
Sein Tuttlinger Konzert ist kaum ein Portrait Bob Dylans, sondern eben Niedeckens Autobiografie, die Dylan doch viel verdankt. Doch seltsam: Der Kölner hat wohl irgendwann den Draht zu seinem – darf man ihn so nennen? – Vorbild verloren. Der späte, irrlichternde Dylan, der seine Fans mit schrägen Versionen alter Songs quält, der Jazzstandards aus dem Great American Songbook aufnimmt, dann wieder mit Weihnachtsliedern verstört, dass man sich fragt: Meint er das ernst? Dieser schratige Dylan kommt kaum vor. Niedeckens Dylan ist halt der von „A Hard Rain‘s Gonna Fall“, der „Basement Tapes“, der Folkclubs im Greenwich Village in New York.
Immerhin: In einigen Momenten kommt der Adept vom Rhein dem
Original sogar stimmlich nah, knödelt und raspelt, lässt den Dylanschen Krächz-Faktor erahnen. Und natürlich kann, darf man denken, dass es ein Sakrileg ist, Dylan-Material einzukölschen. Andererseits: Auf Bairisch, Schwäbisch oder – Gottbewahr – Sächsisch wär’s noch schlimmer.
Das Publikum hat da kölsche Jong von Anfang an auf seiner Seite, viele sind, wie man hört, Langzeit-Fans des BAP-Gründers. Und er kann ja auch erzählen: Anekdoten rund um erlebte Gigs des Meisters, eine warmherzige Reverenz an Alfred Biolek, der am Vortag verstorben ist („Wir werden ihn vermissen“) und der den Musiker vom Chlodwigplatz schon vor BAPs Erfolgszeit entdeckt hatte, ein eindringlicher Impf-Appell, damit bald wieder mehr als 482 Gäste vor ihm sitzen. Am Schluss seine Version – nein, eben nicht von Guns’n’Roses, sondern von Robert Allen Zimmerman (so heißt Dylan bürgerlich) – von „Knockin’ on heaven’s door“, Standing Ovations und der Wunsch, mal wieder Bob Dylan zu hören. Zum Beispiel dessen neueste CD „Rough and Rowdy Ways“.