„Ich komme nicht mehr an sie ran“
Eine Mutter fürchtet, dass ihre Tochter handysüchtig ist – Fachleute erklären, warum oft tiefergehende Probleme dahinterstecken
- Das Smartphone begleitet inzwischen die allermeisten Menschen rund um die Uhr. Ab wann der Gebrauch Sucht-Charakter hat, ist nicht leicht zu erkennen – die Übergänge sind fließend. Zumal das Handy während der Lockdowns besonders für Jugendliche oft die einzige Möglichkeit war, mit Freunden und Klassenkameraden in Kontakt zu bleiben. Auch einer 14-Jährigen aus der Region erging es so. Inzwischen ist sich deren Mutter aber sicher: Ihre Tochter ist handy-süchtig. Erziehungsberater Michael Leicht von der Katholischen Jugendfürsorge (KJF), Kemptens Sozialreferent Thomas Baier-Regnery und Suchtberater Niels Pruin von der Caritas erklären, woran man eine Sucht erkennt und geben Tipps, wie Eltern mit der Situation umgehen können.
„Ein liebes, zuverlässiges Mädchen, sehr empathisch.“So beschreibt
Handy-Sucht sei im Unterschied zur Drogensucht eine substanzungebundene Abhängigkeit, erklärt Erziehungsberater Michael Leicht. Nicht jeder problematische Handy-Gebrauch sei krankhaft. Kriterien, die für eine Sucht sprechen: die Mutter ihre Tochter. Dass sie sich in der Zeit der Pandemie mehr mit ihrem Handy beschäftigte als vorher, störte sie nicht. „Ich fand es wichtig, dass sie ihre Sozialkontakte behält.“
Doch dann habe das Mädchen immer mehr das Interesse an gemeinsamen Aktivitäten, wie etwa einem Familien-Filmabend, verloren. Der Mutter fiel auf, dass sie nachts oft wach – und online – war. Gleichzeitig fielen die Leistungen in der Schule immer schlechter aus. „Ich habe festgestellt, dass sie Sachen, die ich nicht wollte, online gestellt hat.“Videos beispielsweise, in denen die 14-Jährige knapp bekleidet zu sehen war. In Chats habe sie mit anderen über Suizid und Selbstverletzung gesprochen.
Wollte sie ihre Tochter darauf ansprechen, habe diese extrem aggressiv reagiert: „Was ist denn jetzt schon wieder? Da ist doch nichts.“Schließlich eskalierten die Streitigkeiten. Inzwischen lebt die 14-Jährige
Verschlechterung der schulischen Leistungen
Rückzug, auch aus Freizeitaktivitäten wie etwa Sport Steigerung der Handy-Nutzung Starke emotionale oder körperliche Reaktionen, wenn auf das Handy verzichtet werden soll im Heim. „Das Schlimmste ist, dass ich nicht an sie rankomme“, sagt die Mutter. „Die Kinder leben in einer anderen Welt, in der alles andere ausgeblendet wird.“Weil sie sich in der Situation alleine fühle, denke sie darüber nach, eine Selbsthilfegruppe ins Leben zu rufen.
Für Jugendliche sei es viel, viel schwieriger gewesen, mit den Kontaktbeschränkungen zurechtzukommen, als für Erwachsene, sagt Sozialreferent Thomas Baier-Regnery. Denn die Pubertät sei ohnehin eine schwierige Zeit, in der Buben und Mädchen auf der Suche nach Identität sind. Corona habe die Entwicklung von Abhängigkeiten daher sicher begünstigt.
Erziehungsberater Michael Leicht von der KJF will über einen Zusammenhang von Handy-Sucht und Corona nicht spekulieren. Ähnlich wie Baier-Regnery glaubt er aber, dass in den Familien möglicherweise darüber gesprochen werden muss, wie man zu einem normalen Umgang zurückfindet. Sei eine Abhängigkeit da, müsse man schauen, was dahinter steckt, sagt Leicht.
Geht es um Spielsucht oder um die Sucht nach Bestätigung durch Likes in den sozialen Netzwerken? Hat der oder die Jugendliche mit Einsamkeit zu kämpfen, mit Leistungsüberforderung, mit mangelndem Selbstwertgefühl? Das Handy zu verbannen, sei keine Option. „Wir leben in einer digitalen Welt und die erfordert Medienkompetenz.“
Deshalb habe die Stadt in den Kitas digitale Bildung organisiert, sagt Baier-Regnery. Medienpädagogen griffen das Thema an den Schulen auf.
An diese könnten sich Eltern auch wenden, wenn sie keinen Zugang mehr zu ihrem Kind finden. Eine andere Hilfe könne der Erziehungsbeistand des Jugendamts sein. Dabei versuche eine pädagogische Fachkraft,
Vertrauen zu dem Jugendlichen aufzubauen – und Perspektiven aufzuzeigen. „Eltern schaffen das nicht, wenn sie mitten im Konflikt sind.“Baier-Regnery betont: „Jemanden aus so einer Entwicklung herauszuholen, braucht Zeit und Sensibilität.“
Niels Pruin leitet das Fachgebiet Medien- und Internetsucht beim Caritasverband der Diözese Augsburg.
Ein gutes Mittel im Umgang mit Jugendlichen, die ein problematisches Handy-Nutzungsverhalten zeigen, sei ein Mediennutzungsvertrag. Dabei könne man das Kind mitbestimmen lassen, welche Seiten zu welchen Zeiten genutzt werden dürfen. Liege bereits eine krankhafte Sucht vor, bringe ein solcher Vertrag aber nichts mehr. „Dann muss man therapeutisch arbeiten.“