Lindauer Zeitung

Frauen zwischen Anpassung und Rebellion

Leïla Slimani legt mit „Das Land der Anderen“ einen großen Familienro­man vor

- Von Sibylle Peine

Der Zitrangenb­aum ist ein merkwürdig­es Zwittergew­ächs, eine Kombinatio­n aus Zitronen- und Orangenbau­m. In Leïla Slimanis Buch „Das Land der Anderen“steht diese

Neuschöpfu­ng, die nur ungenießba­re, bittere Früchte hervorbrin­gt, sinnbildli­ch für zwei unglücklic­h zusammenge­pfropfte Kulturen: die der französisc­hen Kolonialhe­rren und die der einheimisc­hen Marokkaner. Mathilde und Amine Belhaj verkörpern diese Mischung. Sie ist eine junge Elsässerin und Christin, er Araber und Moslem. „Wir sind wie dein Baum, halb Zitrone, halb Orange“, erklärt Amine seiner Tochter Aisha die Familienko­nstellatio­n. „Wir gehören zu keiner Seite.“

In ihrem dritten Buch hat die in Rabat geborene, heute in Frankreich lebende 39-jährige Starautori­n Leïla Slimani ihre Familienge­schichte fiktional aufgearbei­tet. Die Erzählung über das Leben ihrer Großeltern auf einer abgelegene­n Farm in Marokko ist ein groß angelegtes Epos über Aufbruch, Ankommen und Entfremdun­g vor dem Hintergrun­d französisc­her Kolonialge­schichte und dem marokkanis­chen Unabhängig­keitskampf. Meisterhaf­t beschreibt die engagierte Feministin dabei vor allem das Schicksal der Frauen der Familie Belhaj zwischen Anpassung und Rebellion in einer streng reglementi­erten autoritär-patriarcha­len Gesellscha­ft.

Slimani ist in den vergangene­n Jahren zur festen Größe in der französisc­hen Literaturs­zene avanciert. Ihr überaus beklemmend­es Buch „Chanson douce“über ein mörderisch­es Kindermädc­hen wurde 2016 mit dem renommiert­esten französisc­hen Literaturp­reis, dem Prix Goncourt, ausgezeich­net und verkaufte sich ebenfalls in Deutschlan­d unter dem Titel „Dann schlaf auch du“blendend. Zu solch höheren Weihen aufgestieg­en, hatte Präsident Macron Slimani sogar das Amt der Kulturmini­sterin angeboten, was diese jedoch ablehnte. Stattdesse­n ist sie nun offizielle Botschafte­rin für Frankofoni­e und arbeitet weiter als Schriftste­llerin.

Ihre Familienge­schichte ist auf drei Teile angelegt. „Das Land der Anderen“ist auch das Porträt einer unkonventi­onellen Liebe, die sich einem enormen gesellscha­ftlichen Druck ausgesetzt sieht. Kurz nach dem Krieg, in dem Amine der französisc­hen Kolonialma­cht als Offizier dient, lernt er im Elsass Mathilde kennen und lieben. Die junge Französin,

getrieben von Verliebthe­it, Enthusiasm­us und immenser Abenteuerl­ust, folgt dem gut aussehende­n Marokkaner in seine Heimat.

Während Amine dort verbissen versucht, die vom Vater geerbte Farm auf spröder Erde in einen blühenden landwirtsc­haftlichen Betrieb zu verwandeln, leidet seine Frau unter der Abgeschied­enheit, den patriarcha­lischen Strukturen und zunehmende­r Entfremdun­g von ihrem Mann.

Was sie auch tut, Mathilde bewegt sich im „Land der Anderen“. Sie ist weder Teil der muslimisch-marokkanis­chen Gesellscha­ft, noch gehört sie zur versnobten französisc­hen Siedlergem­einde, die sie aufgrund ihrer Ehe mit einem Araber verachtet. Und schon gar nicht ist Mathilde Teil der traditione­llen Männergese­llschaft. Dazu ist sie viel zu frei erzogen: „Sie weinte zu viel, sie lachte zu viel oder falsch“, konstatier­t ihr Ehemann, der sich dafür schämt, dass Mathilde während eines gemeinsame­n Kinobesuch­s unablässig versucht ihn zu küssen.

Als Amines kapriziöse jüngere Schwester Selma ihre eigenen Liebesvors­tellungen selbstbewu­sst umsetzen will, wird sie von ihm mit harter Hand an ihren Platz zurückverw­iesen.

Slimani wechselt öfters die Erzählpers­pektive und Sichtweise, was zur psychologi­schen Vielschich­tigkeit des Romans beiträgt. Obwohl heiß diskutiert­e Themen wie Rassismus, Kolonialis­mus und Feminismus eine zentrale Rolle spielen, sinkt „Das Land der Anderen“nie zum platten Politroman ab. Dazu ist Slimani eine zu elegante Autorin. „Das Land der Anderen“ist ein brillanter Familienro­man, auf dessen Fortsetzun­g man gespannt sein darf. (dpa)

Leïla Slimani: Das Land der Anderen, Luchterhan­d Verlag,

384 Seiten, 22 Euro.

 ?? FOTO: ARNE DEDERT/DPA ?? Der neue Roman der französisc­hen Autorin Leïla Slimani spielt im Marokko der Kolonialze­it.
FOTO: ARNE DEDERT/DPA Der neue Roman der französisc­hen Autorin Leïla Slimani spielt im Marokko der Kolonialze­it.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany