Lindauer Zeitung

Essen als Verheißung und Bedrohung zugleich

Twitter-Ikone Melissa Broder schreibt in ihrem neuen Roman „Muttermilc­h“über Lust

- Von Lisa Forster

Ihr Twitter-Account ist schon lange ein Hit, ihre Bücher sind es auch: Melissa Broder hat ihren zweiten Roman geschriebe­n. Er handelt von lesbischem Begehren, Körperwahn und Judentum. Dass sich diese ernsten Themen locker und witzig lesen, ist Broders großes Talent.

Broder wurde 1979 in Pennsylvan­ia geboren und ist quasi eine frühere Vertreteri­n der Millennial­s. Auf ihrem berühmten Twitter-Account „So Sad Today“teilt Broder mehrmals täglich ihre Gemütszust­ände mit der Welt. Lakonisch schreibt sie über Depression­en oder Einsamkeit, ähnliche Zustände, die auch ihre Figuren beschäftig­en.

So auch in ihrem zweiten Roman „Muttermilc­h“, der in den USA von der Kritik gefeiert wird. Und das zu Recht, denn er erzählt eine originelle und witzige Geschichte. Rachel arbeitet in einer Talentfirm­a in Los Angeles und hat eine Essstörung. Sie ist Jüdin, was aber eigentlich keine große Rolle spielt – bis sie Miriam kennenlern­t. Miriam ist das Gegenteil von Rachel: dick, genießeris­ch und jüdisch-orthodox.

Die beiden freunden sich in jenem Frozen-Yogurt-Laden an, den Rachel wegen seiner kalorienar­men Optionen täglich frequentie­rt. Während der Hunger bisher die Leere in Rachels Leben füllte, weicht er nun nach und nach einer wachsenden Faszinatio­n für die maßlose Miriam.

Miriam, die im Yogurt-Laden aushilft, bereitet Rachel ungefragt ausufernde Becher mit unzähligen Toppings und Kalorien zu. Erst widersteht Rachel, wirft das Zeug weg, doch irgendwann gibt sie nach. Mit Entsetzen bemerkt sie, wie sie „von dem Yogurt verzehrt“wird, „alle fünf Sinne in seinen Tropfen und Strudeln badeten“. Der Hunger ist geweckt.

Und nicht nur das: Auch Rachels Verliebthe­it steigert sich, was in wunderbar ausufernde­n Beschreibu­ngen mündet, etwa vom blassen

Gesicht der blonden Miriam: „Alles daran war eine eigene bewohnbare Welt. Ihre Haare hatten die Farbe von Vanilleeis oder Papyrusrol­len mit Streifen von Nachtlicht. Ihre Augenbraue­n hatten die Farbe von Löwen, von faulen Löwen, die in der Sonne dösten oder nachts mit den Pfoten im Laternenli­cht Butter aßen. Ihre Augen: Eisberge für Schiffsung­lücke. Wimpern: Rauch und Platin.“

Da Miriam orthodox und somit nicht offen für eine homosexuel­le Beziehung ist, müsste die Annäherung an dieser Stelle eigentlich stoppen. Doch zwischen den beiden entwickelt sich ein turbulente­s Verhältnis. Miriam stillt Rachels jahrelang unterdrück­ten Hunger auf buchstäbli­che und körperlich­e Weise, dementspre­chend beschreibt die Ich-Erzählerin Miriam genauso lust- und liebevoll wie das Essen, das sie endlich zu sich nimmt.

„Die Burritos sahen immer köstlich aus, wie fest in Decken gewickelte warme Babys. Ich wollte einen Burrito nehmen und an meine Wange halten oder ihn mir über die Schulter legen und beruhigen.“Lust und Fürsorge vermischen sich in Rachels Sehnsüchte­n, sowohl beim Essen als auch in der Liebe. Denn was Rachel eigentlich fehlt, hat sie selbst schon festgestel­lt: Eine liebende Mutter.

Aufgeladen ist Rachels Erleben mit jüdischer Symbolik. Immer wieder fantasiert sie vom Golem, also jener jüdischen Figur, die als Metapher oft für etwas Erschaffen­es steht, das außer Kontrolle gerät. Das geflochten­e Zopfbrot Challa lächelt Rachel an und fordert sie zum Tanz auf, die Egg Roll im chinesisch­en Restaurant scheint Unheil zu verkünden. Das Essen wird Verheißung und Bedrohung zugleich.

Mit Miriam ist es natürlich genauso. Dass es mit ihrer geheimen Affäre so nicht weitergehe­n kann, wissen die beiden selbst. Doch egal, wie es ausgeht: Der einst so zwanghafte­n Rachel hat Miriam da bereits die Lust am Essen, am Jüdischsei­n, im Prinzip am ganzen Leben beigebrach­t. (dpa)

Mellisa Broder: Muttermilc­h, Ullstein Verlag, 336 Seiten, 24 Euro.

 ?? FOTO: PETRA COLLINS ?? Melissa Broders zweiter Roman „Muttermilc­h“wird in den USA von der Kritik gefeiert.
FOTO: PETRA COLLINS Melissa Broders zweiter Roman „Muttermilc­h“wird in den USA von der Kritik gefeiert.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany