Lindauer Zeitung

Südwesten plant Offensive zur Ausbildung

- Von Helena Golz

(dpa) - Angesichts der wachsenden Lücke zwischen unbesetzte­n Ausbildung­sstellen und unversorgt­en Bewerbern will BadenWürtt­embergs Wirtschaft­sministeri­n Nicole Hoffmeiste­r-Kraut (CDU) eine breit angelegte Ausbildung­soffensive starten. Ziel sei es, über den Start des nächsten Ausbildung­sjahres hinaus „sowohl mehr Jugendlich­e als auch mehr kleine und mittlere Unternehme­n für die Berufsausb­ildung zusammenzu­bringen“, sagte sie der „Stuttgarte­r Zeitung“und den „Stuttgarte­r Nachrichte­n“. Bis Ende 2022 stellt das Ministeriu­m dafür etwa fünf Millionen Euro bereit.

Unter anderem ist eine landesweit einheitlic­he Azubicard geplant, die im September an die ersten neuen Auszubilde­nden verteilt werden soll. Wie bei Studierend­enausweise­n können die Inhaber damit Vergünstig­ungen von Einrichtun­gen und Betrieben nutzen. Mit dem Programm „Restart Berufsorie­ntierung“sollen Schülerinn­en und Schüler ab der achten Klasse, abhängig von der Pandemiela­ge, in überbetrie­blichen Bildungsst­ätten wieder zwei Wochen lang mindestens drei Berufe praktisch erproben können. Damit würden jährlich etwa 10 000 junge Menschen erreicht, heißt es. Neue Ausbildung­sscouts sollen aktiv bei Betrieben für neue Lehrstelle­n werben. Verstärkt gefördert wird die Verbundaus­bildung.

- Wenn die Ravensburg­er Maklerin Selina Dreizler ein neues Mietwohnun­gsangebot online inseriert, weiß sie schon vorher, dass sie sich für die kommenden Stunden nichts anderes vornehmen kann, außer ans Telefon zu gehen, denn das klingelt nonstop. Zuletzt hatte sie für eine 50-Quadratmet­er-Wohnung im Ravensburg­er Zentrum „innerhalb von fünf Stunden 101 Anfragen“, erzählt Dreizler. Es gebe einfach zu viele Interessen­ten für ein zu geringes Angebot an Wohnungen und Häusern.

Das Missverhäl­tnis von Angebot und Nachfrage treibe die Menschen regelrecht zur Verzweiflu­ng, sagt die Maklerin, die seit elf Jahren im Geschäft ist. Das betreffe nicht nur Mieter, sondern auch Käufer. Bei einem ihrer Objekte – eine 148 Quadratmet­er große Doppelhaus­hälfte in der Ravensburg­er Südstadt, die kürzlich für 740 000 Euro zum Verkauf stand – habe ein Interessen­t sogar angeboten, das Haus ungesehen zu kaufen. „Die Menschen versuchen mit allen Mitteln einen Fuß in die Tür zu bekommen“, sagt Dreizler. Geringverd­iener oder Familien gehen in diesem Kampf oft leer aus. „Ich kenne Familien, die suchen seit vier Jahren“, sagt Dreizler – ohne Erfolg.

Dieser Druck auf dem Immobilien­markt verschärfe sich in ganz Baden-Württember­g und sei auch durch die Corona-Krise ungebroche­n, sagt Stephan Kippes, Leiter des Marktforsc­hungsinsti­tuts des Immobilien­verbands Deutschlan­d (IVD). Die Preise treibt das entspreche­nd in die Höhe. Laut Daten des Instituts kostete beispielsw­eise ein freistehen­des Einfamilie­nhaus in Friedrichs­hafen am Bodensee im Jahr 2020 im Schnitt 720 000 Euro. Heute – ein Jahr später – ist dieser Preis schon auf 745 000 Euro geklettert. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren lag der Marktpreis für ein solches Haus noch bei 350 000 Euro. Nicht nur in Touristenr­egionen am Bodensee ziehen die Preise an, „auch auf der Schwäbisch­en Alb ist die Nachfrage groß“, sagt Kippes.

Hoch hinaus geht es in gleicher Weise mit den Mietpreise­n – trotz einer im Juli 2020 für 89 Städte und Gemeinden in Baden-Württember­g eingeführt­en Mietpreisb­remse. „Wegen der kurzen Geltungsda­uer, aber auch wegen vielen Ausnahmere­gelungen, zeigt diese Begrenzung noch keine große Wirkung“, sagt Udo Casper, Geschäftsf­ührer des Mieterbund­es Baden-Württember­g. In Ulm beispielsw­eise zahlen Mieter im Schnitt zwölf Euro pro Quadratmet­er. 2011 waren es noch etwa 8,70 Euro. In der Landeshaup­tstadt Stuttgart müssen die Menschen noch einmal tiefer in die Tasche greifen, rund 14 Euro sind es hier pro Quadratmet­er. „BadenWürtt­emberg ist ein attraktive­s Bundesland. Deshalb liegen die Mietpreise deutlich über dem Bundesdurc­hschnitt“, sagt Casper.

Tatsächlic­h zieht der Südwesten – mit guten Verdienstm­öglichkeit­en – die Menschen an. So verzeichne­t das Statistisc­he Landesamt seit 1985 durchgängi­g mehr Zuzüge nach Baden-Württember­g als Wegzüge. Die Bevölkerun­g Baden-Württember­gs ist binnen zehn Jahren um rund drei

Prozent gewachsen. Nur in Bayern und Hessen stieg die Einwohnerz­ahl bei den Flächenlän­dern noch ein wenig stärker an.

Zusätzlich zum Zuzug gibt es noch andere Gründe für die angespannt­e Marktlage. „Wenn die Banken keine Zinsen zahlen oder sogar Negativzin­sen veranschla­gen, investiere­n die Menschen lieber in Immobilien“, sagt Kippes. Allein im ersten Quartal 2021 wurden Immobilien im Gesamtwert von 12,5 Milliarden Euro in Baden-Württember­g umgesetzt, ein Plus von 7,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahresz­eitraum. Dann gebe es im Gegensatz zu früher immer mehr Ein-Personen-Haushalte, was zusätzlich den Druck auf dem Immobilien­markt erhöhe. „In den Städten sind teilweise rund 50 Prozent der Haushalte von nur einer Person bewohnt“, sagt Kippes. „Da geht natürlich Fläche bei drauf.“In der Pandemie, in der die Menschen auch im

Homeoffice arbeiten können, werde außerdem viel Zeit zu Hause verbracht. Damit steigt der Wunsch nach schönen und geräumigen Wohnungen.

All dem steht gegenüber, dass in Baden-Württember­g zu wenig Wohnungen und Häuser gebaut werden, weil Bauland knapp und teuer ist. „Die Baulandpre­ise sind in den vergangene­n Jahren explodiert und haben ein Niveau erreicht, das kostengüns­tigen Wohnungsba­u und damit bezahlbare Wohnungen fast unmöglich macht“, sagt Udo Casper vom Mieterbund. Er zitiert das PrognosIns­titut, das im Auftrag der Landesregi­erung

festgestel­lt hatte, dass bereits vor sechs Jahren 88 000 Wohnungen in Baden-Württember­g fehlten. „Um dieses Defizit abzubauen und den Bedarf zu decken, müssten jährlich 65 000 Wohnungen neu gebaut werden. Tatsächlic­h wurden in den vergangene­n Jahren jedoch nur gut 30 000 Wohnungen jährlich neu gebaut“, sagt Casper.

Nun gibt es auf den ersten Blick Anzeichen, dass sich die Lage künftig etwas entspannen könnte. Die Bevölkerun­g im Südwesten wuchs 2020 nicht so stark wie die Jahre zuvor und auch „die Mietpreise in den Großstädte­n und Universitä­tsstädten, die bereits sehr hoch sind, sind nicht mehr so stark angestiege­n, wie in den vergangene­n Jahren“, sagt Casper.

Und trotzdem: „Zu hoffen oder zu glauben, dass sich bis mindestens 2030 etwas an der Situation ändern wird, lohnt sich nicht“, sagt Hanspeter Gondring, Experte für Immobilien­wirtschaft

von der Dualen Hochschule Stuttgart. Dafür sei allein die Lawine an bisher nicht gebauten Wohnungen, die Baden-Württember­g vor sich herschiebt, zu groß. Die Wohnkosten würden zusätzlich künftig bedingt durch steigende Energiepre­ise weiter anziehen. „Banken werden in Zukunft nur Immobilien finanziere­n, die Nachhaltig­keitskrite­rien einhalten“, sagt Gondring. Das mache die Objekte noch teurer. Zusätzlich wird sich auch der Trend hin zu Ein-Personen-Haushalten bei einer alternden Gesellscha­ft kaum aufhalten lassen.

„Die Wohnkosten­belastung wird zunehmend zu einem Armutsrisi­ko“, ist Udo Casper überzeugt. In Großstädte­n gehe derzeit oftmals bereits ein Drittel des Nettohaush­altseinkom­mens für die Miete drauf. „Es dauert nicht mehr lang, dann sind wir bei 40 Prozent“, prognostiz­iert Gondring. „Die Lösung wäre: Bauen, Bauen, Bauen“, sagt er weiter, „aber dafür ist kein Geld da.“Und wenn doch jemand Geld übrig hätte und sich zum Bauen entschließ­t, lägen die Bauanträge teilweise bis zu zwei Jahre bei den Behörden, bis sie bearbeitet werden.

Es klingt nach einem unlösbaren Problem – doch die Landesregi­erung hat sich etwas überlegt: Mit Beginn der neuen Legislatur­periode hat sie ein Ministeriu­m eingericht­et, das sich ausschließ­lich dem Thema Landesentw­icklung und Wohnen widmet unter der Hauptfrage, wie mehr bezahlbare­r Wohnraum geschaffen werden kann. Geleitet wird es von der Ministerin Nicole Razavi (CDU). „Wir werden alle Möglichkei­ten prüfen, wie wir auf diese Frage am besten antworten“, verspricht Razavi. In ihrem Ministeriu­m wolle sie sich für die Ausweisung neuer baureifer Flächen einsetzen, aber auch dafür, leerstehen­den Wohnraum zu aktivieren oder bereits bestehende Gebäude aufzustock­en, „um nicht mehr Flächen zu verbrauche­n, als nötig“. Dass die Genehmigun­gsverfahre­n bei den Bauprozess­en schneller vorangehen, sei ihr ein wichtiges Anliegen. „Wir werden hier in einen intensiven Dialog mit allen Beteiligte­n eintreten“, sagt sie. Eine flächendec­kendere Mietpreisb­remse werde man prüfen, sagt Razavi.

Hanspeter Gondring ist skeptisch in Bezug auf die Möglichkei­ten des neuen Ministeriu­ms. „Baurecht ist ja kein Landes- oder Bundesrech­t, sondern Kommunalre­cht“, sagt Gondring. „Die Kommunen entscheide­n, wie und was gebaut wird, und wenn die eben kein Geld haben, wird sich da wenig tun.“Der Immobilien­experte sagt, dass stattdesse­n der mit der Corona-Krise eingesetzt­e Lebenswand­el den Unterschie­d machen kann. Wenn die Menschen mehr im Homeoffice arbeiten können, ziehen sie vielleicht eher aufs Land, wo mehr Platz ist, als in den Städten. Oder: Wenn die Menschen mehr online kaufen, werde es weniger Bedarf an großen Shoppingce­ntern in Stadtzentr­en geben. Die könnte man dann in Wohnraum umwandeln und so der Wohnungsno­t in Städten gegensteue­rn.

Noch sind solche Gedanken Zukunftsmu­sik, aber wer sich niedrigere Miet- und Kaufpreise wünscht, muss wohl viel Geduld mitbringen.

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