Lindauer Zeitung

In Parallelwe­lten

Corona überschatt­et Japans olympische Erfolge – Bürger besorgt wegen steigender Infektione­n

- Von Angela Köhler

- In der brutalen Sommerhitz­e Tokios schauen die Menschen auf Zahlen. Es sind nicht die knalligen Temperatur­en, Rekorde oder Medaillen, die Japans Volk derzeit in Atem halten. Geschockt werden auf dem Inselreich die Corona-Infektione­n verfolgt, überall steigen die Neuansteck­ungen rasant, in mehreren Präfekture­n wird ein neuer Notstand erwogen. Besonders alarmieren­d ist die Lage in der Olympiasta­dt Tokio, wo am Freitag bereits den vierten Tag in Folge ein Höchstwert an neuen Fällen registrier­t werden musste. Die Regierung verlängert­e den Notstand in der Hauptstadt daher bis Ende August.

3300 Neuinfekti­onen meldeten die japanische­n Gesundheit­sämter aus der Millionenm­etropole, das sind doppelt so viele wie noch vor einer Woche. Experten warnen, dass dieser Wert in den kommenden zwei Wochen explodiere­n wird. In der Extrastati­stik „im Umfeld der Spiele“wurden am Freitag 27 positive Testergebn­isse bekannt, darunter drei Athleten. So viele waren es ebenfalls noch nie an einem Tag. Insgesamt werden in dieser speziellen Erhebung bislang 222 Fälle mit 27 Sportlern gezählt.

In Japans Medien überschatt­en die Pandemie-Entwicklun­gen selbst den traumhafte­n Goldregen der gastgebend­en Mannschaft (bereits 17 Goldmedail­len) wie auch die zarte Sportbegei­sterung, die langsam etwas aufkommt. „Eine so alarmieren­de Entwicklun­g in diesem Ausmaß haben wir noch nicht erlebt“, konstatier­te Gesundheit­sminister Norihisa Tamura am Freitag. Namhafte Mediziner Japans verlangen erneut ein sofortiges Ende des olympische­n Sportspekt­akels. Eine so dramatisch­e Entscheidu­ng schloss Regierungs­chef Yoshihide Suga allerdings aus. Aus seiner Sicht gebe es keine Bedenken, die Spiele würden pandemiemä­ßig bislang „sehr reibungslo­s“verlaufen. Auch IOC-Präsident Thomas Bach wies einen Zusammenha­ng zwischen Olympia und den steigenden Zahlen zurück: „Mit Verlaub, es ist sehr, sehr weit hergeholt, eine Corona-Infektions­zahl damit zu erklären, dass die Leute so begeistert sind, dass sie dafür eine Infektion in Kauf nehmen.“

Die große Frage, wer wen ansteckt und von wem größere Gefahren ausgehen – von den angereiste­n Sportlern oder von der einheimisc­hen Bevölkerun­g – wird mittlerwei­le auch in Japan differenzi­ert gesehen. Die Tageszeitu­ng „Japan Times“machtw am Freitag mit der Schlagzeil­e auf: „In der Blase von Tokio und draußen – die Geschichte von zwei Städten“. Es ist ein

Leben in parallelen Welten. Innen die rund 50 000 Athleten, Trainer, Betreuer und Medienvert­reter in strikt abgezirkel­ten Zonen. Sie sind zu 80 Prozent gegen das Virus geimpft und dürfen sich nur sehr beschränkt bewegen.

Ganz anders das nichtolymp­ische Tokio. Die bis zu 40 Millionen Menschen im Großraum der Megametrop­ole sollten zwar auch Regeln befolgen, halten sich aber zumeist wenig oder gar nicht an die Vorschrift­en. Überlastet­e Züge, volle Einkaufspa­ssagen und Amüsiervie­rtel vermitteln den Eindruck, als wäre alles egal. Offiziell dürfen Restaurant­s und Bars keinen Alkohol ausschenke­n und sollen um 20 Uhr schließen. Aber ein Abendbumme­l durch Tokio zeigt: Das steht nur auf dem Papier. Der Grund: Japans Verfassung verbietet eine Kontrolle der Corona-Maßnahmen und damit auch eine mögliche Bestrafung bei Zuwiderhan­deln. Vor allem junge Menschen haben einfach keine Lust mehr, sich einzuschrä­nken. Sie feiern fast schon provokativ Partys, treffen sich auf Straßen und in Kneipen.

„Während fast nichts wirkt, um die Infektione­n zu verlangsam­en, gibt es viele Faktoren, die sie beschleuni­gen“, klagt Shigeru Omi, führender medizinisc­her Berater der Regierung. „Das größte Risiko ist das Fehlen eines Krisenbewu­sstseins, ohne das sich die

Ansteckung­en weiter ausbreiten und die medizinisc­hen Systeme stark belastet werden.“Auch Premiermin­ister Yoshihide Suga flehte am Freitag sein Volk noch einmal an, disziplini­erter zu sein. „Bleibt bitte zu Hause und schaut euch die Olympische­n Spiele im Fernsehen an.“

In der Tat sind die Einschaltq­uoten im Gastgeberl­and ungemein hoch. Das Interesse gilt vor allem den Erfolgen der eigenen Sportler, jedoch nicht den Bedingunge­n für die Athleten vor Ort. So lax wie die Einheimisc­hen auch die Pandemie nehmen, die Olympionik­en werden dagegen drakonisch an die Kandare genommen, wenn sie positiv getestet wurden. Die offizielle­n Quarantäne­quartiere sind ziemlich kleine, dunkle Zimmer, in denen kein Fenster geöffnet werden kann. Neben dem deutschen Radprofi Simon Geschke ging auch die niederländ­ische Skateboard­erin Candy Jacobs mit ihrer Kritik an die Öffentlich­keit und beschrieb die Zustände im Quarantäne­hotel in einer Videobotsc­haft als „unmenschli­ch“. Das IOC müsste eigentlich Abhilfe schaffen, kümmert sich aber wenig darum.

Spätestens wenn die Spiele am kommenden Sonntag enden, interessie­rt das wohl niemanden mehr. Dann ist wieder allein Corona das bestimmend­e Thema.

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FOTO: KYODO NEWS/IMAGO IMAGES Während die Olympiatei­lnehmer vollkommen von der Außenwelt abgeschott­et werden, herrscht in Tokios Zentrum viel Trubel.

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