Lindauer Zeitung

Aus dem Schatten ins Rampenlich­t

US-Athlet Trayvon Bromell ist Favorit über 100 Meter – Dabei schien seine Karriere schon beendet

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(SID) - Die Apostelges­chichte des Lukas, der Brief des Paulus an die Philipper oder die Bergpredig­t – bevor die Show beginnt, sucht sich Trayvon Bromell einen ruhigen Platz, holt seine Bibel raus und liest. Es ist ein Ritual, das ihm Kraft gibt. Bromell, Nummer 1 der Welt über 100 Meter und erster Anwärter auf das Erbe von Usain Bolt, lässt „keinen Tag vergehen“, an dem er dem Herrn „nicht dankt. Ohne Gott, ohne Glauben könnte ich nicht laufen.“

Und wie Bromell rennt in diesem Jahr! Nach all den Schmerzen, Rückschläg­en und Verletzung­en in den vergangene­n Jahren. Zuletzt sprintete der 26-Jährige aus den USA 9,77 Sekunden, damit ist er natürlich der große Favorit auf das wichtigste Olympia-Gold in Tokio – Bromell soll nach der Ära Bolt die Sprintehre der USA wiederhers­tellen. Zumal Weltmeiste­r Christian Coleman gesperrt ist.

Für Bromell wäre es eine Art sportliche Wiedergebu­rt. Der Mann aus Florida könnte endlich das Verspreche­n einlösen, das er 2015 als erst 20-Jähriger mit WM-Bronze in Peking abgegeben hatte. Es dorthin zurückgesc­hafft zu haben, „wo ich wieder bin, gibt mir viel zu denken“, sagte Bromell vor den Vorläufen am Samstag (12.45 Uhr MESZ), er habe sich aus „einer wirklich dunklen Gasse“herausgekä­mpft: „2018 hatte ich keinen Grund, noch zu leben.“

Nach zwei Achillesse­hnenoperat­ionen drohte ihm das Karriere-Aus. Die Ärzte hätten ihm gesagt, dass er „nie wieder in Topform“kommen werde, „aber Gott war anderer Meinung“, sagte Bromell. Er scheut sich nicht, über Schwächen zu reden und psychologi­sche Hilfe in Anspruch zu nehmen. So hat er es geschafft, „mehr Frieden zu haben, richtig zu leben und mich nicht von innen heraus zu zerstören“.

Bromell ist der komplette Gegenentwu­rf zu den grimmigen USSprinter­n Justin Gatlin, der 2004 das bisher letzte Olympia-Gold über 100 m für die USA holte, und Coleman, deren Titel und Zeiten von Dopingverg­ehen überschatt­et werden. Bromell liebt die Fotografie, interessie­rt sich für Mode und liest viel. Und angeblich ist ihm Olympia-Gold gar nicht so wichtig. „Was mich am meisten motiviert, ist, dass Kinder mich ansehen und mich als Vorbild sehen“, sagte der 26-Jährige: „Als ich klein war, hat mich niemand gesehen – ich war wie ein Schatten.“

Bromell hat nicht vergessen, wo er herkommt. Nämlich „aus einer schlechten Gegend, in der es viel Armut gibt, wir hatten nicht wirklich viel“, sagte er. Seine Mutter und seine langjährig­e Trainerin Garlynn Boyd gaben ihm Halt und Anstand mit. Im Vorjahr ist „Coach G“an den Folgen einer Coronaviru­s-Infektion verstorben. „Worte können den Schmerz, den ich fühlte, nicht beschreibe­n“, sagte Bromell. In Tokio rennt er auch für sie.

Shelly-Ann Fraser-Pryce kam schnell, lief schnell, verschwand schnell – und zwischendu­rch dankte die schnellste Mama der Welt nach dem ersten lockeren Sprint in Richtung sportliche­r Unsterblic­hkeit noch höheren Mächten. „Ich glaube einfach, dass mir Gott ein gewaltiges Geschenk gemacht hat“, sagte die Jamaikaner­in nach ihrem 100-m-Vorlauf von Tokio, in dem sie unterstric­hen hatte, mit stolzen 34 Jahren zum dritten Mal Olympiasie­gerin werden zu können. Die nur 1,52 m große Sprinterin könnte nach 2008 und 2012 als erste Frau überhaupt zum dritten Mal den Königsspri­nt gewinnen. Doch der Frauenspri­nt ist so stark besetzt wie seit vielen Jahren nicht – auch wenn US-Shootingst­ar Sha'Carri Richardson nach ihrem MarihuanaM­alheur fehlt.

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FOTO: IMAGO IMAGES Trayvon Bromell will Nachfolger von Usain Bolt werden.
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