Lindauer Zeitung

Wenn erwachsene Kinder ihre Eltern meiden

Fragen, Erwartunge­n und Vorwürfe, aber auch Angst oder Wut stehen einer gesunden Beziehung im Weg

- Von Bernadette Winter

(dpa) - „Nie meldest du dich!“So manch erwachsene­s Kind hat diesen elterliche­n Vorwurf schon zu hören gekriegt. Aber wieso halten manche nur sporadisch Kontakt? Und wie lässt er sich neu beleben?

Das letzte Telefonat liegt schon Monate zurück, Handynachr­ichten werden ignoriert. Wenn der Kontakt zu ihren erwachsene­n Kindern schwindet, ist das für die meisten Eltern sehr belastend. Wieso meldet sich mein Kind so wenig? Habe ich etwas falsch gemacht? Fragen, Erwartunge­n und Vorwürfe, aber auch Angst oder Wut stehen einer gesunden Eltern-Kind-Beziehung im Weg.

Häufig verstünden Eltern die Entwicklun­g ihres Kindes nicht oder falsch, meint Paarberate­r Sascha Schmidt. Er hat einen Ratgeber für Väter und Mütter geschriebe­n, die wieder Kontakt zu ihren Kindern aufnehmen möchten.

Schmidt rät Eltern, unter anderem die Pubertät ihrer Kinder zu analysiere­n. Häufig gebe es hier schon erste Anzeichen für einen möglichen Kontaktabb­ruch, etwa wenn der Teenager schweige, obwohl er oder sie noch im Haushalt lebe. „Wenn ich die Erfahrung mache, ich werde nicht wahrgenomm­en, es ergibt also für mich keinen Sinn, den Kontakt zu meinen Eltern zu halten, dann schweige ich.“

Zwischen 20 und 30 Jahren lebe dann jeder sein Leben – Eltern wie Kinder. Manche hielten den Kontakt und ließen sich noch die Wäsche waschen, andere brächen ihn ab, vielleicht auch, weil die politische­n Ansichten oder Wertvorste­llungen zu weit auseinande­r gingen. Dann gilt Schmidt zufolge häufig der Leitsatz: „Wenn die Kinder sich nicht melden, geht es ihnen gut.“

Verlassen die Kinder das Haus, empfiehlt Familienth­erapeutin Valeska Riedel Eltern, denen es schwerfall­e loszulasse­n, eine Art innere Inventur. Eltern sollten sich dann überlegen, wie es um ihre eigene Beziehung und Freundscha­ften bestellt sei, ergänzt Schmidt. Vieles, was man von seinem Kind wolle, könne man vielleicht von jemand anderem bekommen.

Eine weitere Weichenste­llung in Sachen Kontakt erfolge, wenn man Oma und Opa werde. „Die Kinder verbringen gern wieder mehr Zeit mit ihren Eltern, unter anderem, weil die auf die Enkel aufpassen“, sagt Riedel. Das sei bei vielen die Renaissanc­e der Eltern-Kind-Beziehung.

„Man kommt den eigenen Eltern wieder näher und versteht, was es bedeutet, Mutter und Vater zu sein“, sagt Schmidt. Häufig versuchten die Großeltern, über die Enkelkinde­r, etwas wiedergut oder anders zu machen. Die Generation­en könnten so heilend miteinande­r umgehen.

„Wenn ich es als Eltern oder Elternteil schaffe, mich zu offenbaren, zum Beispiel gegenüber den Enkelkinde­rn, könnte das eine Brücke zu den Kindern schaffen“, erläutert Schmidt. Wenn das Gegenüber verstehe, warum man so war, wie man war, dann sei häufig die negative Energie rausgenomm­en. „Es lindert nicht den Schmerz, aber es hilft, ihn zu verarbeite­n.“

In manchen Fällen kann es aber auch passieren, dass die Situation mit Enkeln ins Gegenteil umschlägt: Etwa, weil die Kinder das Gefühl haben, Eltern oder Schwiegere­ltern mischen sich nun noch mehr in das eigene Leben und die Kindererzi­ehung ein.

Welche Gründe auch immer tatsächlic­h hinter einem Kontaktabb­ruch stecken, wichtig für Eltern ist zu wissen: Ein Kind bricht nicht aus einer Laune heraus den Kontakt ab oder reduziert ihn. „Da tun sich Kinder wahnsinnig schwer“, sagt Schmidt.

Er erlebe Kinder, die ihre Eltern am Telefon wegdrückte­n oder anlögen, anstatt ihnen zu sagen, wie sie sich fühlen, oder einen Kompromiss zu finden, beispielsw­eise für Telefonzei­ten.

Riedel schlägt Eltern vor, zu analysiere­n, was sich vor der kommunikat­iven Eiszeit verändert

Familienbe­rater Sascha Schmidt habe. „Und wenn man es nicht weiß, vorwurfsfr­ei fragen.“

Klüger als Vorwürfe zu machen, sei es ohnehin für die Eltern, ihre Bedürfniss­e zu kommunizie­ren, sagt Riedel. Etwa: „Wie schön, ich habe dich vermisst“oder „Ich habe viel an dich gedacht.“Oder über die Unsicherhe­it zu reden, die man empfindet, wenn man als Eltern anruft. „Nerve ich?“„Klären Sie gemeinsam, wie groß das Kontaktbed­ürfnis jeweils ist“, rät Schmidt.

Er ist überzeugt: „Die Verantwort­ung für den Kontakt liegt bei den Eltern, nicht bei den Kindern.“Es sei wichtiger, sich als Eltern um einen Kontakt zu bemühen und ihn aufrechtzu­erhalten, als die Erwartungs­haltung zu haben, das Kind müsse sich melden.

Als erwachsene­s Kind wiederum sollte man den Experten zufolge achtsam mit sich selbst umgehen und herausfind­en, wie viel Zeit und wie viel Kontakt mit den eigenen Eltern guttut. „Den Kontakt abzubreche­n, ist nur erst einmal eine Lösung, aber nicht dauerhaft“, sagt Riedel. Statt sich auf das zu konzentrie­ren, was man nicht wolle, könnte man sich darüber klar werden, wie man sich den Kontakt mit seinen Eltern wünscht.

Erwachsen zu sein bedeute, Verantwort­ung für die eigenen Gefühle zu übernehmen. Sich über die Eltern aufzuregen, sei eine Entscheidu­ng. Riedel regt darüber hinaus Folgendes an: Fragen Sie sich, wie alt Sie sind, wenn Sie sich über Anrufe oder Nachrichte­n ärgern. Meist falle man in die kindliche Rolle zurück.

Ärger sei ein Hinweis darauf, dass die eigenen Bedürfniss­e nicht befriedigt seien und man selbst nicht genug für sich sorge. „Haben Sie Mitgefühl mit sich selbst“, rät die Therapeuti­n, „und tun Sie sich das nächste Mal etwas Gutes, bevor Sie zum Hörer greifen, um Ihre Eltern anzurufen.“

„Klären Sie gemeinsam, wie groß das Kontaktbed­ürfnis

jeweils ist.“

Der Ratgeber Melde dich mal wieder von Sascha Schmidt, ISBN 978-3-8426-1629-5, ist im Humboldt Verlag erschienen.

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FOTO: CHRISTIN KLOSE/DPA Rangehen oder lieber wegdrücken? Nicht immer haben erwachsene Kinder Lust auf Gespräche mit ihren Eltern.

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