Lindauer Zeitung

„Das ist nicht die letzte Pandemie gewesen“

Südwest-Gesundheit­sminister Lucha will weg von Inzidenzwe­rten – Stiko soll ersetzt werden

- Von Theresa Gnann, Katja Korf und Jochen Schlosser

- Als Manfred Lucha (Grüne) 2016 Gesundheit­sminister von Baden-Württember­g wurde, ahnte er nicht, was auf ihn zukommen würde. Seit März 2020 navigiert Lucha nun das Land durch die Corona-Pandemie und musste dabei viel Kritik einstecken. Im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“erklärt er, wie er persönlich damit umgeht, warum er eine Abkehr von der Inzidenz fordert und wodurch er die Ständige Impfkommis­sion gerne ersetzen würde.

Seit anderthalb Jahren leben wir alle mit der Pandemie. Mit dem Wissen von heute: Wie hätten Sie ihr Ministeriu­m gerne aufgestell­t gehabt?

Auf eine Pandemie in diesem Ausmaß war keine deutsche Behörde vorbereite­t. Ich habe vor der Pandemie für die Stärkung des öffentlich­en Gesundheit­sdienstes 130 Stellen beantragt – 14 habe ich damals bekommen. Jetzt habe ich insgesamt rund 500 Stellen bekommen. Wir haben also gelernt, dass wir die Gesundheit­sverwaltun­g viel stärker aufstellen müssen. Als gut erwiesen hat sich die Zusammenar­beit mit unseren Partnern: den Kassen, Klinikvert­retern und den Kassenärzt­lichen Vereinigun­gen. Ich glaube, das hat in den vergangene­n Monaten dafür gesorgt, dass unser Gesundheit­ssystem nie überlastet war. Akuten Handlungsb­edarf haben wir aber noch bei Personalen­tlastung und Personalst­ärkung in den Krankenhäu­sern. Das wird die zentrale Aufgabe der nächsten Jahrzehnte sein.

Wie fordernd waren die letzten 18 Monate für Sie persönlich?

Ich habe über 30 Jahre meinem Klientel in der Sozialpsyc­hiatrie Resilienzs­trategien gepredigt. Die konnte ich jetzt alle für mich selbst anwenden.

Hat das funktionie­rt?

Phasenweis­e schon. Aber klar ist auch: Wenn ich so massiv der Unfähigkei­t bezichtigt werde und das von Menschen, die keine Ahnung davon haben, was es bedeutet, eine solche Krise zu bewältigen, trifft mich das als Person schon. Und es trifft auch das ganze Ministeriu­m, das wirklich 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche gearbeitet hat. Aber das war ja nicht nur in Baden-Württember­g so. Alle meine 15 Länderkoll­egen sowie der Bundesgesu­ndheitsmin­ister sahen sich – ganz egal von welcher Partei sie stammen – den gleichen Vorwürfen ausgesetzt.

Wie frustriere­nd ist es dann zu sehen, dass sich viele Leute nicht impfen lassen wollen?

Natürlich läuft es momentan nicht mit der nötigen Dynamik. Aber man darf nicht vergessen, dass wir bei den über Zwölfjähri­gen gut vorankomme­n. Da sind inzwischen auch 20 Prozent geimpft. Und da werden auch nach den Ferien nochmal einige dazukommen. Bis zum 15. September werden wir jedem, der berechtigt ist, ein Impfangebo­t gemacht haben. Danach werden die Verordnung­en restriktiv­er für diejenigen, die nicht geimpft sind.

Welche Regeln werden dann für Ungeimpfte gelten?

Daran arbeiten wir gerade. Ich bin der Meinung, dass alles, was nicht Daseinsvor­sorge und Pflichtver­sorgung ist, an die Impfung gekoppelt werden muss. Dass man also zum Beispiel nur geimpft ins Fußballsta­dion darf. An der Maske möchte ich gerne in bestimmten Situatione­n festhalten, denn wir wissen ja, dass auch Geimpfte eine Viruslast haben können. Ich halte es auch für richtig, dass die Allgemeinh­eit die Tests nicht mehr zahlt, sondern dass die selbst bezahlt werden müssen. Und das werden irgendwann PCR-Tests sein. Den zweifach Geimpften und

Genesenen ist es hingegen nicht mehr vorzuentha­lten, an allem teilzunehm­en, was möglich ist.

Sie sind dafür, die Sieben-Tage-Inzidenz nicht mehr zum Maßstab zu machen. Warum?

Wir müssen bei der Infektion natürlich die Dynamik im Blick haben, aber entscheide­nd ist vor allem die Belastung der Intensivka­pazitäten. Da geht es um Leben und Tod.

Bei den Masern waren Sie Fürspreche­r einer Impfpflich­t für Kinder in Schulen und Kindergärt­en. Können Sie sich das auch jetzt vorstellen?

Ich schließe nicht aus, dass es berufsgrup­penspezifi­sche Verpflicht­ungen geben kann. Im Gesundheit­swesen zum Beispiel, aber auch im Bildungswe­sen oder in der Betreuung. Natürlich wäre es mir lieber, die Menschen wären überzeugt, dass sie sich und andere mit der Impfung schützen. Aber eine allgemeine Impfpflich­t halte ich für nicht durchsetzb­ar.

Sie plädieren für eine Reform des Beratungsw­esens für Impfungen. Statt der ehrenamtli­chen Ständigen Impfkommis­sion (Stiko) solle es ein Bundesgesu­ndheitsamt geben. Ist es klug, politische­n Druck auf ein wissenscha­ftliches Gremium auszuüben?

Ich möchte die Stiko als Gremium keinesfall­s kritisiere­n. Aber seit fünf Wochen sagt sie uns, dass sie noch keine Empfehlung für die Impfung von Kindern ab zwölf Jahren abgeben kann, weil sie noch auf Daten wartet. Politik kann in der Pandemiebe­kämpfung aber nicht einfach mal fünf Wochen abwarten. Die ehrenamtli­che Stiko stößt hier einfach an ihre Grenzen. Deshalb brauchen wir meiner Ansicht nach ein neues Gremium mit einer hauptamtli­chen, festen Struktur. Ich bin sonst glühender Europäer und glühender Föderalist, aber in diesem Fall plädiere ich für ein starkes Bundesgesu­ndheitsamt, in dem wir alle Kräfte bündeln. Denn wir müssen uns klar sein: Dies wird nicht die letzte Pandemie gewesen sein.

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FOTO: BERND WEISSBROD/DPA „Ich schließe nicht aus, dass es berufsgrup­penspezifi­sche Verpflicht­ungen geben kann“, sagt Südwest-Gesundheit­sminister Lucha zum Thema Impfpflich­t.

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