Strategie für den Corona-Herbst gesucht
Merkel und Ministerpräsidenten diskutieren über kostenlose Tests und Inzidenzwerte
(dpa) - Mehr Schwung für die Impfungen, ein baldiges Ende kostenloser Tests für alle, mögliche neue Warnkriterien für die CoronaLage: Vor den Beratungen von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpräsidenten an diesem Dienstag rücken mehrere Ansatzpunkte für den Kurs gegen eine vierte große Infektionswelle im Herbst und Winter in den Blick. Gastgewerbe und Handel forderten Bund und Länder dazu auf, einen erneuten harten Lockdown mit Schließungen auf breiter Front abzuwenden. Diskutiert wurde weiterhin darüber, mögliche neue Beschränkungen vor allem auf Ungeimpfte zu beschränken.
Es solle alles getan werden, um eine Situation wie Ende vergangenen und Anfang dieses Jahres zu vermeiden, sagte Vize-Regierungssprechern Ulrike Demmer am Montag in Berlin mit Blick auf den monatelangen Lockdown. Die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen stieg laut Robert-Koch-Institut nun weiter auf bundesweit 23,1 – am Vortag waren es noch 22,6 gewesen, vor einer Woche 17,8. Für die Beratungen zeichneten sich mehrere Schwerpunkte ab:
Impfen:
CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak sagte am Montag: „Wir müssen mehr Menschen überzeugen, sich impfen zu lassen. Denn für uns ist eines klar: Geimpfte haben Vorteile. Und jemand, der geimpft ist, darf keine Nachteile haben, weil andere Menschen aus verschiedenen Gründen keine Lust haben, sich impfen zu lassen.“
Dabei kommen die Impfungen weiter voran – derzeit aber vor allem mit vorgesehenen Zweitimpfungen. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) appellierte: „Jede Impfung zählt!“Vollständig geimpft sind nun knapp 45,6 Millionen Menschen oder 54,8 Prozent aller Einwohner.
Testen:
Durchaus als ein Extra-Anstoß für mehr Impfungen trifft ein Ende der kostenlosen Schnelltests für alle auf breite Zustimmung. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sagte der „Stuttgarter Zeitung“: „Auf Dauer wird die öffentliche Hand die Tests nicht finanzieren können.“Es gebe ja ein kostenfreies Impfangebot für alle.
Ähnlich äußerte sich der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil. „Ich halte es ausdrücklich für richtig, dass Ungeimpfte ab dem Herbst ihre Tests selbst bezahlen müssen. Bis dahin hatte jeder die Möglichkeit, sich kostenfrei impfen zu lassen“, sagte der SPD-Politiker dem „Tagesspiegel“.
Gesundheitsminister Spahn hatte vorgeschlagen, dass Tests ab Mitte Oktober nicht mehr gratis zu haben sein sollen – außer für Menschen, die nicht geimpft werden können oder für die keine allgemeine Impfempfehlung besteht wie Schwangere oder Minderjährige. FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae sagte dagegen: „Die Kostenlosigkeit der Tests möglichst lange, auch bis in das Jahr 2022 hinein aufrechtzuerhalten, ist gut angelegtes Geld.“Das gelte auch für Genesene und Geimpfte. Sie seien weitgehend vor Erkrankung geschützt, könnten aber Viren weitertragen.
In der Stadt Tübingen sollen auf jeden Fall weiter kostenlose Schnelltests angeboten werden. Nach Auskunft von Notärztin Lisa Federle, die mit ihrem Team das „Tübinger Modell“bundesweit bekannt gemacht hatte, hat Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) diesem Vorschlag zugestimmt. „Wir bekommen kein Geld von der Stadt, sondern finanzieren uns aus Spenden und dem Geld, das wir schon bekommen haben für die Tests“, sagte Federle am Montag.
Schutzmaßnahmen:
Ministerpräsident Weil sagte, viele seien mittlerweile geimpft. „Vor diesem Hintergrund sind massive Einschränkungen,
wie wir sie beispielsweise noch im Frühjahr hatten, nicht mehr angemessen.“Kretschmann sagte: „Einschränkungen bei Geimpften und Genesenen werden wir zu großen Teilen aufheben.“Für Nichtgeimpfte sei wegen höheren Ansteckungsrisikos der Zugang zu Veranstaltungen oder Einrichtungen „weiter an Bedingungen zu knüpfen“. Die Maskenpflicht etwa in Bussen und Bahnen werde aber sicher bestehen bleiben.
Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) sagte der „Süddeutschen Zeitung“: „Wichtig ist mir, dass diejenigen, die sich nicht impfen lassen wollen, auch weiterhin über Tests die Möglichkeit haben, am öffentlichen Leben teilzunehmen.“Spahn hatte deutlich gemacht, dass dies für „essenzielle Dinge“wie Verkehrsmittel oder Rathausbesuche möglich bleiben sollte. Etwa für Discos oder Stadien könne er sich aber auch einen Zutritt nur für Geimpfte oder Genesene vorstellen.
Corona-Kriterien:
Die Sieben-Tage-Inzidenz war in der Pandemie bisher Grundlage für viele Corona-Einschränkungen, etwa im Rahmen der Ende Juni ausgelaufenen Bundesnotbremse. Künftig sollen daneben wohl mehr Werte stärker einbezogen werden – wie in der politischen Debatte etwa zu belasteten Intensivstationen vielfach schon der Fall. CDU-Chef Armin Laschet schlug nach dpa-Informationen im CDU-Präsidium vor, die Krankenhausbelegung, die Zahl der Intensivpatienten und den Impffortschritt stärker in der Regulierung zu berücksichtigen.
In Baden-Württemberg will Landesgesundheitsminister Manfred Lucha künftig die Auslastung der Intensivbetten zur Messlatte für Einschränkungen machen. Aus seiner Sicht soll es ab Herbst stärkere Restriktionen für Nichtgeimpfte geben, sobald 300 Intensivplätze in BadenWürttemberg mit Covid-Patienten belegt sind. Das kündigte der Grünen-Politiker am Montag bei einer Sondersitzung des Sozialausschusses in Stuttgart an.
Nach Angaben des DIVI-Intensivregisters (Stand: Montag, 16.00 Uhr) werden derzeit 50 Covid-Fälle intensivmedizinisch behandelt. Insgesamt sind demnach landesweit 1909 von betreibbaren 2343 Intensivbetten (81,5 Prozent) belegt.
Die Belegung der Intensivbetten mit Corona-Patienten sei ein geeigneter Grenzwert für Einschränkungen ab dem Herbst, heißt es in einem Konzeptpapier aus Luchas Ministerium, das der Deutschen PresseAgentur vorliegt. Die Begründung für den Paradigmenwechsel lieferten unter anderem Daten aus Großbritannien, wo sich Inzidenzen und Auswirkungen auf die Krankenhäuser um den Faktor 4 bis 5 entkoppelt hätten, seitdem der Großteil der Bevölkerung durchgeimpft ist.