Rote Tomaten laden zum Naschen ein
Auf dem Reichsplatz stehen 25 Hochbeete – Die Pflanzen locken nicht nur Insekten, sondern auch Menschen an
- Auf dem Reichsplatz in Lindau grünt es: In 25 Hochbeeten gedeihen Gemüse, Kräuter und Blumen. Das lockt nicht nur Insekten und die Gärtnerinnen und Gärtner, die sich um die Beete kümmern, an. Es bleiben auch viele Passanten stehen oder schlendern zwischen den Holzkisten über den Platz, um zu betrachten, was dort wächst.
Christiane Norff hat das UrbanGardening-Projekt initiiert. Der englische Begriff kann mit „Stadtgärtnern“übersetzt werden. Die Idee dahinter ist, dass Menschen auch in Städten Obst und Gemüse anbauen, meist auf auf kleinen, öffentlichen Flächen. Für die ÖDP-Stadträtin ist das Projekt auf dem Reichsplatz zu einem Herzensanliegen geworden.
Sie wohnt neben dem Reichsplatz. „Ich gucke seit neun Jahren auf den Platz“, sagt sie. Eigentlich sei er schön mit den alten Bäumen und dem Lindavia-Brunnen, „aber ansonsten kahl, eigentlich ein vernachlässigter Platz.“Bevor die Hochbeete dort aufgestellt wurden, diente ein Teil des Platzes als Motorradparkplatz. Christiane Norff hat über die Jahre beobachtet, dass vor allem im Sommer tagsüber viele Gäste den Schatten unter den Bäumen aufsuchen, um eine Pause zu machen. Zu späterer Stunde seien dort immer Nachtschwärmer gestrandet, hätten meist Müll hinterlassen. „Nachbarn waren aber nie hier, dabei haben viele Anwohner keinen Balkon“, sagt sie.
Die Idee, den Platz durch gemeinschaftliches Gärtnern für die Nachbarschaft zu beleben, hatte sie Anfang 2020. Im Vorfeld der Gartenschau stieß sie nicht nur bei der
Stadtverwaltung auf offene Ohren. Die Idee kaum ausgesprochen, wurde sie im vergangenen Sommer konkreter. Mit den Lindauern Daniel Obermayr und Andreas Zeh fand sie direkt Mitstreiter, die von Anfang an dabei waren. Auch Jan Wragge und Norman Dietrich von den Gartenund Tiefbaubetrieben Lindau (GTL) unterstützten die Idee. Noch vor Weihnachten kamen 25 Einzelpersonen und Gruppen zusammen, die jeweils eine Patenschaft für ein Hochbeet übernehmen wollten. „Eine Schwierigkeit war, dass wir uns wegen Corona nur über Videokonferenzen treffen konnten“, sagt Norff.
Sie freut sich besonders darüber, dass es eine ganz bunte Mischung von Menschen ist, die sich als Gärtner engagieren. „Es sind junge Menschen dabei, Senioren, Familien mit Kindern, Alleinstehende, Alteingesessene und Zugezogene“, sagt sie. Das gemeinsame Gärtnern auf dem Reichsplatz sei eine gute Gelegenheit, um Kontakte zu knüpfen und Lindauer kennenzulernen.
Die Hochbeete bestehen aus ausrangierten Obst-Großkisten aus Holz. „Mit sechs Leuten haben wir an einem Freitagnachmittag in der Stadtgärtnerei gewerkelt, sie mit Folie und Vlies ausgekleidet und mit Substrat gefüllt“, berichtet Norff. Heute stehen die Kisten am Rand des Reichsplatzes und um den LindaviaBrunnen herum. „Es gibt keine Regel und kein Konzept, was die Bepflanzung anbelangt, außer dass es ansehnlich sein sollte und keine Gefährdung darstellt“, sagt sie.
Seit die Gärtchen auf dem Platz stehen, herrscht dort eine ganz andere Atmosphäre. Die Motorräder parken jetzt am Rand, außerdem wurden ein paar Bänke aufgestellt, die woanders übrig waren, und die Waschbeton-Quader im hinteren Bereich wurden mit Holzplatten abgedeckt. Seither laden sie zum Hinsetzen oder Hinlegen ein. „Die Bänke sind Wanderbänke. Das heißt, sie sind nicht am Boden verankert und wir können sie so umstellen, wie wir sie gerade brauchen“, sagt Norff und freut sich: „Das ist viel kommunikativer.“
Sie und die anderen Gärtnerinnen und Gärtner werden häufig angesprochen, wenn sie gerade nach ihren Pflanzen sehen. Und auch aus anderen Stadtteilen kamen schon mehrere Anfragen. Christiane Norff ist sich sicher, dass sich solche Projekte auch an anderen Plätzen in Lindau umsetzen lassen. Aber sie sagt auch: „Es muss letztlich aus dem Bedürfnis der Anwohner entstehen, etwas zu verändern.“
Die 25 Beete sind ganz unterschiedlich bepflanzt. Tomaten sind zumindest auf den ersten Blick die dominierende Gemüsesorte, aber es gibt zum Beispiel auch Zucchini, Rote Beete, Kartoffeln und Erbsen. Außerdem gibt es Kräuter wie Basilikum und Majoran und zwischen den essbaren Pflanzen wachsen viele bunte Blumen, die Bienen, Hummeln und Schmetterlinge anlocken. Angelockt werden aber auch viele Menschen, und die naschen offenbar ganz gerne von den reifen Tomaten. Deshalb sind inzwischen an manchen Hochbeeten Schildchen zu finden, die darauf hinweisen, dass die Gärtnerin oder der Gärtner die Früchte ihrer Arbeit gerne selbst ernten würden.
Dass Fremde beim Vorbeigehen ihre roten Tomaten verspeisen, sieht Christiane Norff aber mit Gelassenheit. „Es ist ein Projekt für die Allgemeinheit“, sagt sie. „Man muss das in Kauf nehmen.“Andererseits sei am Reichsplatz noch nichts mutwillig zerstört worden. Sie führt das darauf zurück, dass der Platz durch das Engagement der Gärtnerinnen und Gärtner nun belebter sei und man sieht, dass sich jemand um ihn kümmert. „Dann ist die Hemmschwelle, etwas kaputt zu machen, wahrscheinlich größer“, sagt sie. Trotzdem hat sie schon eine kleine Überraschung erlebt, als sie eines Morgens an ihrem Beet vorbeikam: Jemand hatte eine Girlande aus Origami-Kranichen an die Pflanzen gehängt. „Das ist doch sehr nett“, sagt sie.
Ursprünglich als temporäres Projekt während der Gartenschau angelegt, kann sich Norff gut vorstellen, dass auch in Zukunft auf dem Reichsplatz gegärtnert wird – und vielleicht auch auf anderen Plätzen in Lindau.