Lindauer Zeitung

Die Augen des Gesetzes

Wenn Täter auf Fotos identifizi­ert werden sollen, beginnt Friedrich Rösings Arbeit – Er entdeckt verblüffen­de Details

- Von Tobias Schuhwerk

- Sein messerscha­rfer Blick entdeckt jedes Detail – und hat schon viele Täter überführt. Professor Friedrich Wilhelm Rösing (77) aus Blaubeuren ist einer der bekanntest­en unter den 40 Forensisch­en Anthropolo­gen in Deutschlan­d. Auch im Allgäu wird er als Gutachter von Gerichten bestellt, wenn es um die Identifizi­erung von Tätern auf Fotos und Videos geht. Manchmal geht es dabei um abscheulic­he Straftaten.

So wie im Frühjahr in Ravensburg. Dort stand ein 41-jähriger Mann vor Gericht, dem vorgeworfe­n wurde, seinen damals vierjährig­en Sohn sexuell missbrauch­t und die

Taten gefilmt und fotografie­rt zu haben. Der Mann schwieg vor Gericht. Sein Gesicht war auf den Aufnahmen nicht zu sehen. Einmal jedoch war ein Ohr zu erkennen. Ein anderes Mal eine Hand. Nun begann die Arbeit von Friedrich Rösing. In stundenlan­ger Detailarbe­it verglich er mit bloßem Auge die Tat-Aufnahmen mit erkennungs­dienstlich­en Polizei-Fotos von Ohr und Hand des mutmaßlich­en Täters. Millimeter um Millimeter suchte er nach Übereinsti­mmungen oder Unterschie­den, ehe sein mehrseitig­es Gutachten zu einem klaren Schluss kam: „Die Identität ist sehr wahrschein­lich (95 bis 99 Prozent).“Angesichts der erdrückend­en Beweislast gab der

Mann die Taten schließlic­h zu und wurde zu einer Haftstrafe von über acht Jahren verurteilt.

„Ich blende alle Emotionen aus. Meine Aufgabe ist es, so genau wie möglich hinzusehen – und ich hab’ Gott sei Dank noch immer sehr gute Augen“, sagt Rösing, der gänzlich ohne technische Hilfsmitte­l arbeitet. Nur die ausgedruck­ten Bilder liegen vor ihm auf dem Schreibtis­ch. Keine Lupe, kein Mikroskop. Der Senior trägt noch nicht einmal eine Brille. „Wer auf den Computer baut, hat schon verloren. Bis heute gibt es kein Programm, das die Feinanalys­e so beherrscht, wie ein geschulter Mensch es kann.“

Seine Fähigkeit als „Auge des Gesetzes“wird bundesweit geschätzt und führt ihn auch immer wieder ins Allgäu. Beispielsw­eise ans Landgerich­t Kempten, wo im Juni ein 41-Jähriger verurteilt wurde, der im September 2020 eine Tankstelle in Weitnau (Oberallgäu) überfallen hatte. Bilder einer Überwachun­gskamera hatten zum Täter geführt, den Rösing mit „hoher Wahrschein­lichkeit“als solchen identifizi­erte. Deutlich häufiger geht es im Alltag des Gutachters jedoch um Ordnungswi­drigkeiten wie überhöhte Geschwindi­gkeit im Straßenver­kehr. Die Identifika­tion von mutmaßlich­en Temposünde­rn auf „Blitzerfot­os“ist sein Spezialgeb­iet.

Bei guten Aufnahmen gleicht er gut 260 Merkmale nach einer standardis­ierten Liste ab. Beginnend mit der Kopf- und Gesichtsfo­rm, über Gesichtspr­oportionen, Wangen, Ohren, Nase, Augen, Mund, und Kiefern arbeitet er sich Stück für Stück weiter bis zum Hals. Am längsten bleibt sein Blick am Ohr hängen. „Es ist wahnsinnig komplizier­t aufgebaut und bietet allein 40 Merkmale, die ich untersuche. Das Besondere: Es gibt beim Ohr keine dominanten

Die forensisch­e Anthropolo­gie ist eine von drei gerichtlic­hen Wissenscha­ften vom Menschen. Zu ihren Gebieten zählen: die Identifizi­erung von Tätern und Opfern nach Bildern, die Identifizi­erung von Skeletten,

Altersdiag­nose (vor allem bei jungen Straftäter­n), Abstammung­sgutachten, Zwillingsd­iagnose.

Der Begriff forensisch (gerichtlic­h) leitet sich ab vom lateinisch­en Forum (Marktplatz), auf dem auch Gerichtsve­rhandlunge­n stattfande­n.

Die Anthropolo­gie ist die vergleiche­nde Biologie des Menschen.

Merkmale, die bei jedem vorkommen.“Rösing studierte Anthropolo­gie, Biologie und Archäologi­e. Das kleine Fachgebiet der forensisch­en Anthropolo­gie in Deutschlan­d prägte er, indem er Standards für die Identifika­tion von Menschen anhand von Skelettres­ten oder nach Bildern entwickelt­e.

Gäbe es Wettkämpfe in der beliebten Rätselrubr­ik „Finde den Fehler“, bei der jeweils zwei Bilder miteinande­r verglichen werden, wäre er vermutlich Großmeiste­r.

Mit 77 Jahren hat er noch lange nicht genug. „Ich will gebraucht werden“, sagt er schmunzeln­d. „Sollte morgen jedoch ein Computer mehr können als ich, sage ich sofort tschüss.“

Doch danach sieht es nicht aus. Der Terminkale­nder des Experten ist voll.

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FOTO: TOBIAS SCHUHWERK Professor Friedrich W. Rösing aus Blaubeuren arbeitet als Forensisch­er Anthtropol­oge bundesweit für verschiede­ne Gerichte, unter anderem ist er auch häufig im Allgäu geladen.

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