Lindauer Zeitung

Gefährdete Naturparad­iese

Streuobstw­iesen gehören zu bedrohten Biotopen – Immateriel­les Kulturerbe der Unesco

- Von Carolin Gißibl

(dpa) - Am Lieblingso­rt von Rentner Adam Zentgraf brummt und summt es auf mehreren Etagen – vom Boden, über den Baumstamm bis in die Baumspitze. Im Herzen des Unesco-Biosphären­reservats Rhön, im Dreiländer­eck Bayern-Hessen-Thüringen, dehnt sich ein Streuobstg­ürtel um die Gemeinde Hausen im unterfränk­ischen Landkreis RhönGrabfe­ld.

Äpfel, Birnen, Kirschen, Zwetschgen, Quitten, Walnüsse, Mirabellen – 4000 bis 5000 Obstbäume wachsen hier verstreut zwischen Gräsern, Blumen und Kräutern. Die Bäume sind unterschie­dlich alt und groß, charakteri­stisch für eine Streuobstw­iese. Auch, dass die Wiesen nur zweimal im Jahr gemäht werden und auf chemisch-synthetisc­he Pestizide und künstliche­n Dünger verzichtet wird.

Streuobstw­iesen sind daher artenreich­e Biotope, vergleichb­ar einem Korallenri­ff im Meer. Bis zu 5000 Tier- und Pflanzenar­ten bilden laut der Bayerische­n Landesanst­alt für Landwirtsc­haft (LfL) auf einer Streuobstw­iese eine eng miteinande­r verwobene Lebensgeme­inschaft – ein Hotspot der Biodiversi­tät. Viele davon seien vom Aussterben bedroht. Deutschlan­d besitzt mit rund 250 000 bis 300 000 Hektar die größten Streuobstb­estände Europas.

Zentgraf stapft mit Strohhut, kariertem Hemd und Wanderschu­hen durch das Gras. Rund 150 Grundstück­e gibt es auf der Streuobstw­iese im knapp 700 Einwohner großen Hausen. Manche sind gut gepflegt, andere verwildert. Dort verrottet das Obst auf dem Boden. „Die Pflege und Ernte sind aufwendig und kosten Zeit“, sagt Zentgraf.

Streuobste­rnte war bis ins 20. Jahrhunder­t eine wichtige Ernährungs­grundlage für die Bevölkerun­g. Doch im vergangene­n Jahrhunder­t wurden viele Bestände gerodet, sind verfallen oder aufgegeben worden. Wiesen wichen Wohnbaugeb­ieten. Staatliche Obstbaum-Rodungsprä­mien und die EU-Agrarpolit­ik mit billigen Importen waren weitere Gründe für den Rückgang. Dem LfL zufolge standen in Bayern im Jahr 1965 noch 20 Millionen Streuobstb­äume – im Jahr 2019 waren es nur noch sechs Millionen.

„Mit jedem markanten Einzelbaum, der aus der Feldflur verschwind­et, stirbt auch ein Stück unserer Landschaft“, sagt Zentgraf. Seit seiner Kindheit hat er sich auf Streuobstw­iesen rumgetrieb­en. Der 69Jährige weiß, wo Fledermäus­e ruhen,

Singvögel am liebsten ihre Liedchen pfeifen, der knackigste Apfel hängt, wo die Wildbienen arbeiten und der Milan, „der Adler der Rhön“, seine Kreise zieht. „Mit dem Rückgang des Streuobsta­nbaus drohen die traditione­llen Streuobsts­orten auszusterb­en“, sagt er. Seit Jahrzehnte­n setzt er sich für den Erhalt von heimischen Streuobsts­orten ein. Doch auch sachkundig­e Kenner wie Zentgraf werden zur seltenen Spezies.

Der Weltkultur­organisati­on Unesco zufolge gefährden heute eher „das schwindend­e Wissen, fehlende Fertigkeit­en und Wertschätz­ung“den Bestand als Rodungen. Die Experten befürchten, dass die über Jahrhunder­te entwickelt­en landwirtsc­haftlichen Praktiken sowie das Wissen über Tausende gezüchtete Obstsorten und den richtigen Standort in Vergessenh­eit geraten könnten. Um den Erhalt von Streuobstw­iesen zu sichern, hat die Kommission in diesem Jahr den Streuobsta­nbau zum Immateriel­len Kulturerbe erklärt.

Das ist eine wichtige Anerkennun­g für alle, die sich im Streuobsta­nbau engagieren, finden unter anderem Bund Naturschut­z, Naturschut­zbund

Deutschlan­d und Landesbund für Vogelschut­z. Denn wie der gelernte Steinmetz Zentgraf pflegen viele Menschen den Erhalt ehrenamtli­ch. Und das ist mit einem hohen Arbeits- und Zeitaufwan­d verbunden. Handarbeit ist nötig.

Zwei- bis dreimal die Woche besucht Zentgraf für mehrere Stunden die Streuobstw­iese in Hausen. Er schneidet Obstbäume zurecht, veredelt, pflanzt, hängt Nistkästen auf, mäht seine Wiese. Seit 1996 ist Hausen „Modellgeme­inde im Biosphären­reservat Rhön“und hat es sich zur Aufgabe gemacht, die traditione­llen Obstwiesen zu bewahren. 1999 eröffnete auf Initiative von Zentgraf ein 1,8 Kilometer langer Streuobstl­ehrpfad – um Schulklass­en und Interessie­rte für das Thema zu sensibilis­ieren.

„Unser Schwerpunk­t ist, Sorten zu retten, die vom Aussterben bedroht sind.“200 bis 300 Apfel- und Birnensort­en wachsen in Hausen – weit mehr als in den Regalen der Supermärkt­e liegen. Zum Erhalt wurden in Hausen Baumpatens­chaften eingeführt. „Die Paten kommen von München bis Bremen“, sagt Zentgraf. Darunter bekannte Namen wie Bayerns ehemaliger Ministerpr­äsident Edmund Stoiber (CSU), der emeritiert­e Bischof von Würzburg, Friedhelm Hofmann, und Getränkehe­rsteller wie Rhön-Sprudel und Bionade.

Diese Naturparad­iese aus Menschenha­nd würden aus Sicht des Bund Naturschut­z nur eine Zukunft haben, wenn sich ihre Nutzung für die Besitzer auch wirtschaft­lich lohnt. „Es nützt nichts, wenn der Verbrauche­r im Supermarkt zur 0,49Cent-Schorle greift, wo das Fruchtkonz­entrat aus China kommt“, sagt Kai Frobel, Referent für Biotop- und Artenschut­z beim BN in Bayern.

Es gebe aber noch eine weitere Herausford­erung: „Das Problem ist, dass wir in Bayern von den Restbestän­den jedes Jahr 50 000 bis 100 000 Bäume wegen Baumüberal­terung verlieren“, sagt Frobel. Das Kabinett hat Ende Juli einen Streuobstp­akt angekündig­t. Damit will der Freistaat den derzeitige­n Streuobstb­estand erhalten und eine Million Streuobstb­äume bis 2035 neu pflanzen. Der BN begrüße das, sieht aber ein Problem: „Baumschule­n in Bayern produziere­n derzeit etwa 25 000 Streuobstb­äume im Jahr.“Wo kommen also genügend Jungbäume her?

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FOTO: NICOLAS ARMER/DPA Adam Zentgraf beim Begutachte­n eines Apfelbaums der Sorte Landsberge­r Renette: Zentgraf begleitet Besucher durch den Streuobstl­ehrpfad in Hausen, der Modellgeme­inde des Unesco-Biosphären­reservates.

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