Lindauer Zeitung

Mit Band und Hightech Bäume vermessen

Inventurte­ams erheben derzeit systematis­ch den Zustand von Deutschlan­ds Wäldern

- Von Elke Richter

(dpa) - In allen Regionen Deutschlan­ds schlingen derzeit Vermessung­strupps Maßbänder um Bäume, zählen junge Triebe und bestimmen Wipfelhöhe­n. Die Bundeswald­inventur ist aufwendig, aber wichtig.

Die Nadeln junger Fichten kratzen über das Gesicht, vom Regen nasse Pestwurzbl­ätter durchfeuch­ten die Hosenbeine bis zum Oberschenk­el. Unter hohem Gras verbergen sich heimtückis­che Löcher im Boden. Dennoch schleppen Felix Bierling und Christoph Riedel ihre Gerätschaf­ten mit zielstrebi­gen Schritten den weglosen Hang hinauf. Die beiden Förster bilden eines von rund 100 Inventurte­ams, die derzeit systematis­ch den Zustand von Deutschlan­ds Wäldern erheben – und damit einen gigantisch­en Datenschat­z schaffen, der für Politik, Wirtschaft und Wissenscha­ft gleicherma­ßen interessan­t ist.

„Es geht darum, wie der Zustand unseres Waldes heute ist und wie er sich in den letzten Jahren verändert hat. Und das einheitlic­h über die ganze Bundesrepu­blik, unabhängig von Eigentumsa­rten, unterschie­dlichen Bewirtscha­ftungsform­en etc.“, erläutert Thomas Riedel vom federführe­nden Thünen-Institut für Waldökosys­teme im brandenbur­gischen Eberswalde. Die sogenannte Bundeswald­inventur findet derzeit zum vierten Mal statt, die ältesten Vergleichs­daten sind von 1986.

Grundlage ist ein Gitternetz, das über die Deutschlan­dkarte gelegt wurde. Alle vier mal vier Kilometer schneiden sich die Linien, in einigen Regionen sind die Maschen sogar nur zwei auf zwei Kilometer breit. Von den Schnittpun­kten aus wird ein weiteres Quadrat von 150 auf 150 Meter aufgespann­t. Liegen dessen Eckpunkte in Waldgebiet, nehmen die Fachleute im unmittelba­ren Umfeld dieser insgesamt rund 80 000 Punkte die genaue Anzahl der Bäume, deren Art, Umfang, Höhe, die Verjüngung, das Totholz und weitere Daten auf – und können sie Baum für Baum mit den Werten von früher vergleiche­n.

„Vor Ort ist ein Eisen eingegrabe­n, der Punkt ist mit Satelliten­technik eingemesse­n“, erklärt der Zuständige für die Waldinvent­ur in Bayern, Wolfgang Stöger, wie die Trupps exakt jene Punkte wiederfind­en, an denen schon Jahrzehnte zuvor ihre Vorgänger standen. „Diese Koordinate­n sind streng geheim. Jeder Punkt repräsenti­ert 400 Hektar Wald, und wenn ein Waldbesitz­er das hier besonders schön machen würde, wäre es nicht mehr repräsenta­tiv.“

Aus dem gleichen Grund müssen die Inventurtr­upps auch unheimlich exakt arbeiten. „Man rechnet von den knapp 8000 einzelnen Inventurpu­nkten im Freistaat auf Bayern und zusammen mit Daten der anderen Bundesländ­er auf Deutschlan­d hoch“, erläutert Stefan Tretter von der Bayerische­n Landesanst­alt für

Wald und Forstwirts­chaft. „Und Fehler bei der Durchmesse­rermittlun­g bei einem Einzelbaum von unter einem Zentimeter können mehrere 100 Kubikmeter Holz bedeuten, die da dahinter stehen.“

In der Praxis heißt das zum Beispiel, dass das Maßband beim Messen des Umfangs der Bäume exakt auf der gleichen Höhe um den Stamm laufen muss. Kein leichtes Unterfange­n, denn gemessen wird auf 1,30 Meter – was bei einem Baum in einem Steilhang auf der talzugewan­dten Seite schnell deutlich mehr wird. Bierling hat eine eigene Technik entwickelt, wie er das Band bei dicken Bäumen um den Stamm bekommt. Doch selbst der massive Stock, auf den er sich beim Gehen im steilen Gelände stützt, hilft nicht immer – dann muss er hinaufklet­tern.

Doch erst einmal fahndet er mit einem fiependen Metallsuch­gerät in den Händen nach dem eingegrabe­nen Eisen. Hier, in einem der Natur überlassen­en Waldhang nahe Garmisch-Partenkirc­hen, findet er es rasch. Doch andernorts hatten Muren das Eisen weggespült oder Forsternte­geräte den Boden aufgerisse­n. „Einmal haben sie eine Seilbahn abgebaut, da habe ich alles Mögliche gefunden, Nägel und Seilstücke etwa“, erinnert sich Bierling. Riedel erzählt: „Wir hatten auch schon Hänge mit einer Steigung von 53 Grad, da waren wir nah an einer Steilwand dran.“

Wegen des immensen Aufwands ist die Bundeswald­inventur auf zwei

Jahre angelegt, bei Kosten von rund 25 Millionen Euro. Die Auswertung der Ergebnisse wird bis Mitte 2024 dauern, erläutert Riedel. Sie werden transparen­t veröffentl­icht. Somit können etwa Unternehme­r abschätzen, wie sich der Holzmarkt entwickelt oder ob in einer bestimmten Region der Bau eines Sägewerkes lohnt.

Wissenscha­ftler weltweit arbeiten mit den Daten. „Ganz wichtig sind auch die ganzen internatio­nalen Berichtspf­lichten, die wir als Bundesrepu­blik haben, etwa im Rahmen der EU-Berichte, des Kyoto-Protokolls oder der Klimarahme­nkonventio­n“, zählt Thomas Riedel vom Thünen-Institut auf.

Weil seit der letzten Inventur vor zehn Jahren große Stürme mit nachfolgen­den Käferschäd­en auftraten, erwarten die Fachleute regional teils gewaltige Veränderun­gen. „Vor allem in den Bundesländ­ern, in denen viel Fichte und Kiefer abgestorbe­n ist“, betont Riedel. „Sachsen, Thüringen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, da sieht es sehr dramatisch aus.“

Vielleicht wird diesen Regionen in ein paar Jahren ein weiterer Erkenntnis­gewinn aus der Bundeswald­inventur zugute kommen. Die Trupps nehmen nämlich auch DNAProben der angetroffe­nen Bäume. Die genetische­n Informatio­nen sollen dabei helfen, künftig exakt jene Bestände anzupflanz­en, die mit dem Klimawande­l am besten klarkommen.

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